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Unterrichtsmodelle in der Erprobung

„4+1“ bringt unkontrollierbare Auswüchse

Während in den Medien die Schlagzeile „Vier Tage Schule, ein Tag frei“ herrschte, wiegelte Bildungsministerin Feußner ab und schob die durch Corona verursachte Welle der Schulschließungen und die damit verbundene Entwicklung des digitalen Unterrichts in den Vordergrund. Neben der Bereitstellung der IT-Infrastruktur und digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sollte jetzt der Schwerpunkt auf der Kompetenzentwicklung zur Nutzung digitaler Medien bei Schülerinnen und Schülern liegen.

Das Unterrichtsmodell 4+1 mit dem Wechsel von Präsenz- und Online-Lerntagen würde diese Kompetenzen gezielt entwickeln und fördern. Bereits ein Jahr bevor die Unterrichtsmodelle zum Hauptthema in den Nachrichten wurden, haben GEW-Mitglieder des Lehrerbezirkspersonalrates Magdeburg begonnen, sich intensiv mit den Zielstellungen, Fragen und Problemen dieser Vorhaben auseinanderzusetzen. Im Ergebnis der Meinungsbildung greift dieser Artikel die gemeinsam diskutierten Fragen und Probleme der beiden Fachgruppen Sekundar- und Gesamt-/Gemeinschaftsschulen auf.

Die Organisation: Vier Tage Präsenz und ein Tag Distanzlernen

Bereits im vergangenen Schuljahr haben erste Schulen dazu Erfahrungen gemacht. So wurde z. B. das Unterrichtsmodell in der Klassenstufe 7 erprobt. Die Klassen erhielten einen regulären Stundenplan für alle fünf Unterrichtstage der Woche, die Stunden des Distanzlerntages wurden so, wie an allen anderen Tagen, ausgewiesen. Nach einer Einführungsphase von einigen Wochen, in denen die Schüler*innen mit der Funktionalität der technischen Bedingungen, der Lernplattform Moodle und entsprechenden Lernmethoden vertraut gemacht wurden, begann die Umsetzung des Distanzlerntages. Ab diesem Zeitpunkt wurden die Stunden des Unterrichtstages entsprechend der Unterrichtszeiten online unterrichtet. Nicht alle Schüler*innen verfügten dabei über die notwendigen technischen Voraussetzungen, also z. B. digitale Endgeräte oder ausreichende Internetverbindungen. Für diese Schüler*innen und in Fällen, in denen sich Eltern gegen die Teilnahme am Online-Lerntag entschieden, war die Schule in der Verantwortung, geeignete Arbeitsmöglichkeiten vor Ort bereitzustellen. Als Arbeitsraum wurde deshalb in den Unterrichtsstunden der PC-Raum der Schule zur Verfügung gestellt. Schüler*innen ohne digitale Endgeräte konnten alternativ ein Leihgerät durch die Schule erhalten, das sie zu Hause benutzten. Problematisch ist der Online-Lerntag für Kinder und Jugendliche, die sich in Heimen oder Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe befinden. Für eine Tagesbetreuung der Kinder und Jugendlichen während der Unterrichtszeit ist durch die Träger kein Personal eingeplant. Auch für diese Schüler*innen trägt die Schule die Verantwortung während des Online-Unterrichtstages. Der Stundenplan am Online-Lerntag betraf sowohl Einstunden- als auch Mehrstundenfächer sowie eine Klassenleiterstunde. Zur Sicherstellung der Lernergebnisse des Online-Lerntages fand dieser im wöchentlichen Wechsel mit einem Präsenz-Lerntag statt. Somit waren die Schüler*innen 14-tägig an einem Tag im Distanzunterricht. Der Online-Unterricht bezog sich auf per Moodle erteilte Aufgaben, Übungen und Anwendungen und wurde nicht per Video aus dem PC-Raum an die beteiligten Schüler*innen zu Hause übertragen. Die Lernaufgaben wurden stundenweise entsprechend der Unterrichtszeiten freigeschaltet. Die jeweilige im PC-Raum eingesetzte Fachlehrkraft gab über Moodle zusätzliche Hilfestellungen für die Schüler*innen zu Hause und im PC-Raum. Die Planung einer regelmäßigen Online-Klassenleiterstunde erwies sich letztendlich als pädagogisch nicht sinnvoll und äußerst ungeeignet. Es kam durchaus vor, dass Lehrkräfte während ihres geplanten Online-Unterrichts kurzfristig andere Aufgaben übertragen bekamen. Der Online-Unterricht wurde in diesen Fällen nicht mehr durch eine Lehrkraft begleitet; die Schüler*innen sollten selbstständig und alleine arbeiten.

Die Auswirkungen für Lehrkräfte und Schüler*innen

Lehrkräfte, die das Modell 4+1 bereits erprobten, machten die Erfahrung, dass die Vorbereitung des Online-Unterrichts mit einem enormen Zeitaufwand einher ging. Nicht nur alle Arbeitsaufgaben waren digital neu vorzubereiten, sondern das gesamte didaktische Vorgehen musste völlig umstrukturiert werden. Regelmäßige Fortbildungen und Arbeitsgruppenberatungen benötigten sehr viel Zeit. Mehrmals im Jahr gab es ganztägige zentrale Netzwerktreffen beteiligter Schulen. All dies führte zu einer erheblichen Arbeitsverdichtung bei den eingesetzten Kolleg*innen. Die Sicherung der Arbeitsergebnisse der Schüler*innen, das Abfordern und die Kontrolle der Lernaufgaben erwiesen sich ebenfalls als sehr arbeits- und zeitintensiv. In den Unterrichtsstunden, die dem Online-Lerntag in den betroffenen Fächern folgten, mussten ausführliche Reflexionsphasen geplant werden, um ein einheitliches Plateau bei den Schüler*innen zu gewährleisten. Für die Kompetenzentwicklung sowie für die didaktische Gestaltung des eigentlichen Unterrichts fehlte zunehmend die Zeit. Regelmäßige Leistungserhebungen wurden zum Problem. Erschwerend kam die Heterogenität der Schüler*innen hinzu. Die Klassenzusammensetzung aus Schüler*innen mit unterschiedlichem Leistungsvermögen und verschiedensten Förderbedarfen erschwerte gemeinsame Aufgabenstellungen für den Distanzunterricht. Unterschiedliche häusliche Voraussetzungen und individuelle Lernvoraussetzungen fördern eine soziale Ungleichbehandlung. Auch das soziale Lernen ist am Online-Lerntag sehr eingeschränkt. Für die Lehrkräfte wurden die Online-Stunden einschließlich der dazugehörenden Vor- und Nachbereitungen als gehaltene Unterrichtsstunden gezählt. Kam es zeitgleich zu einem Vertretungseinsatz in einer anderen Klasse, wurde diese als Mehrzeit verrechnet. Am Ende des Arbeitstages stand immer eine höhere Arbeitsbelastung.

Was letztendlich pädagogisch übrig bleibt

Was mit enorm großem Arbeitsaufwand realisiert wurde, führte am Ende nur zu einer teilweisen Kompetenzentwicklung bei Schüler* innen. Zu groß sind die individuellen Unterschiede, zu verschieden die häuslichen Voraussetzungen. Während für die Studierfähigkeit junger Menschen das selbstständige und kompetente digitale Lernen und Arbeiten Grundvoraussetzungen sind, stellt sich die Frage, warum solche Unterrichtsmodelle ausgerechnet an Sekundar- und Gemeinschaftsschulen initiiert werden. Für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen oder mit sozial-emotionalem Förderbedarf, die Sekundar- und Gemeinschaftsschulen regelmäßig besuchen, sind solche Unterrichtsmodelle denkbar ungeeignet und führen zu einer Benachteiligung. Wer digitalen Unterricht entwickeln und die damit verbundene Kompetenzentwicklung der Schüler*innen unterstützen will, hat dafür viele Möglichkeiten im Unterricht des regulären Schulalltags und ist nicht auf einen Online-Lerntag angewiesen. Hinter vorgehaltener Hand bekommt man von Schulleiter*innen jedoch auch die nicht offiziellen Wünsche zu erfahren, die sich mit der Einführung des Modells verbinden. Können wir Lernangebote ohne die Präsenz von Lehrkräften vorhalten? Könnte man damit Unterrichtsausfälle kompensieren? Können Lehrkräfte, die im Online- Unterricht eingesetzt sind, zeitgleich auch zu Vertretungen in anderen Klassen eingesetzt werden? Lässt sich durch Online-Unterricht der Unterrichtsausfall minimieren oder gar die Unterrichtsversorgung der Schule verbessern? Zu verlockend, diesen Aussichten zu widerstehen. Öffentlich wird dies niemand zugeben, zu groß wäre der Skandal. Aber die Grauzone bleibt. Und je mehr Schulen dies praktizieren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es unkontrollierte Auswüchse geben wird. Das Modell 4+1 darf nicht dazu genutzt werden, regulären Unterricht in der Schule ausfallen zu lassen, diesen durch Online-Aufgaben zu ersetzen und die Bildungs- und Erziehungsarbeit auf die Eltern abzuwälzen. Jedoch ist aufgrund des Lehrermangels die Gefahr groß, dass dieses Unterrichtsmodell genau dafür genutzt wird. Dazu darf es nicht kommen. Unterrichtsmodelle zu entwickeln und auszuprobieren, erfordert viel Zeit und Aufwand. Beim gegenwärtigen Lehrermangel, wo Schulen eine Unterrichtsversorgung von teilweise nur 70 Prozent haben und die Kolleg*innen mit viel Engagement daran arbeiten, den Schulbetrieb aufrecht zu erhalten, Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung zu begleiten, Eltern zu beraten und in die Bildungsarbeit einzubeziehen, ist die Grenze der Belastungen längst erreicht. Die Altersstruktur der Lehrkräfte lässt erkennen, dass solche Vorhaben zunehmend zu Überlastungen und Langzeiterkrankungen führen. Die Einführung neuer Unterrichtsmodelle ist auf jeden Fall ein wesentlicher Belastungsfaktor. Im neuen Schuljahr 2022/2023 beginnen weitere Schulen mit der Erprobung des Modells 4+1. Während im vergangenen Schuljahr Erfahrungen mit nur einer Klassenstufe gesammelt wurden, wollen künftig einige Schulen das Modell auf alle Klassenstufen von 5 bis 10 ausdehnen. Man kann nur empfehlen, diese Ausweitung auf alle Klassenstufen gründlich zu hinterfragen und am Ende nicht umzusetzen.

Und was sagt die Schulverfassung?

Bisherige Erfahrungen aus Kollegien zeigen, dass nur wenige Lehrkräfte von Anfang an vom Modell 4+1 überzeugt waren. Ohne Diskussion und Beschlussfassung der Gesamtkonferenz begann die erste Erprobung. Auch nach einem Jahr der Erprobung hat sich die überwiegende Skepsis nicht gelegt und das Modell wird von vielen Kolleg*innen abgelehnt. Ein Blick ins Schulgesetz genügt, um festzustellen, dass die Gesamtkonferenz grundsätzliche Fragen der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit der Schule, pädagogische Konzepte und Grundsätze beschließt. Dies betrifft besonders auch die Einführung neuer Unterrichtsmodelle wie 4+1 oder 80+10. Erst durch die Diskussion von Eltern-, Schüler- und Lehrervertretungen kann eine gemeinsame Willensbildung erfolgen, ob und inwieweit das Neue mehrheitlich getragen wird. Alle Kolleginnen und Kollegen sind gefordert, sich in diese Diskussion einzubringen. Eine gründliche Abwägung der Vor- und Nachteile und auch des Aufwands muss unbedingt vorgenommen werden. Nur mit einem positiven Beschluss der Gesamtkonferenz kann die Erprobung neuer Unterrichtsmodelle legitimiert werden und an der Schule beginnen.