Kolumne „(un)klare Sache“
Anfang mit Kastanie
Jürgen Köhler-Grundmann verfasst regelmäßig für unser Mitgliedermagazin „klar!“ eine Kolumne über gesellschafts- und bildungspolitische Themen.
Gar nicht lange her, da meinte Schwesterchen Oktober zu Bruder November: „Gedulde dich, ich möchte noch ein paar Tage des ‚Indian Summer‘ verschenken – so wunderschön, dass sie besungen werden.“
Die Kinder hörten das und zogen los, stürmten zu uralten Bäumen im Park. Unter denen hielten sie Ausschau, jubelten über jeden Fund und füllten ihre Körbchen mit braunen Kugeln. „Wie kommt es zu dieser reichen Ernte?“ – fragten sie ihre Erzieher*innen. Zwei der Kinder hockten konzentriert im Gras und vereinten Psychologie mit Mathematik. Wortlos legten sie die Kastanienbotschaft „Mama + Papa = ♥“. Um diese beiden herum wurde es zunehmend lauter: „Wieso gibt es zu Weihnachten keine Kastanien?“, „Woher stammt die braune Farbe?“, „Wer hat die Kastanienmurmeln in die grünen Igel gesteckt?“, „Warum müssen wir jetzt schon in die Kita zurück zum Essen, können wir nicht hier draußen Kastanien kochen und dann futtern?“.
Ich stand dabei und dachte kurz daran, Früchte und Schalen mit Kleber wieder zu vereinen. Doch ich war gewiss, die Kleinen hätten kopfschüttelnd zugeschaut und gegrinst, der hat ja keine Ahnung, fragen wir mal besser in der Kita. Das muss anders geklärt werden, das mit dem Kastanienschalenkugelgeheimnis.
Für die Kinder erwies sich in diesen Minuten eine glänzende braune Frucht als die große ganze Welt, die entdeckt werden muss; und der Kindergarten wird ihr Forschungslabor. Darin treiben sich Kindergruppe und Erzieher*innen gleichermaßen zu Höchstleistungen. Alle spornen sich an, alle werden inspiriert von grenzenloser Neugier. Geht dabei mal was schief, machen sie Pause und trösten sich. Da ist der Nobelpreis nicht mehr weit: Immerhin erklärten die diesjährigen Preisträger für Medizin, sie seien auf ihre Entdeckung der „microRNA“ zufällig, aus wissenschaftlicher Neugier gestoßen. Ähnlich kommentierte einst Alexander Fleming seine Entdeckung des Penicillins.
Also klar, Kinder wollen und sollen mit dem Lernen früh beginnen, sie müssen ihre eigenen Erfahrungen einsammeln und bewerten – ihre Welt ist ungemein komplex und wartet darauf, von ihnen geprägt zu werden. Und wer weiß, welche Kastanienrätsel sie demnächst lösen, wenn ihnen eine starke Lobby die Möglichkeiten dafür einräumt. Starke Lobby? Sind denn die Kinder nicht per se ihre eigene Lobby und die Kindertagesstätten ihre Parlamente? Für die stünden Wahlen unter dem Thema „Beste Bildung“ – versprochen von der Landesverfassung. Was für Aussichten: Eine Wahl wird mit dem Thema „Bildung“ gewonnen. Auf einer Rollerdemo ruft dann der Sprechchor der Kleinen: „Viel mehr Personal wäre so genial“, denn „Klugheit und Spaß sind unser Maß“. Zu lesen ist ebenfalls die Anregung „Jeder Tag ist Kindertag“. Weihnachten aber feiern auch alle großen Kinder und als beständige Erinnerung daran habe ich mir ein weihnachtliches Kastanienhäuschen mit einem Dach aus Pfefferkuchen gebastelt. Und wer still davorsteht, hört „Guten Abend, schönen Abend …“.