Modellprojekt an Berufsbildenden Schulen
Blended Learning kann Präsenzunterricht nur ergänzen!
Nach der Corona-Pandemie rief das Bildungsministerium in Sachsen-Anhalt das Modellprojekt „Blended Learning“ („gemixtes Lernen“) an Berufsbildenden Schulen ins Leben. Unter Beteiligung des Bildungsministeriums, des LISA und des Schulamtes erproben nun Schüler*innen in 22 Bildungsgängen an zwölf Berufsbildenden Schulen den Mix aus digitalem und konventionellem Unterricht.
Bevor ein falscher Eindruck entsteht: Als Bildungsgewerkschaft mahnen wir schon seit langem an, dass die Digitalisierung an unseren Schulen in allen Bereichen zu schleppend verläuft – sowohl bezüglich der technischen Anschlussvoraussetzungen als auch in der sächlichen Ausstattung. Dadurch werden Entlastungen im Verwaltungsbereich verhindert, die Vereinfachung der Kommunikation aller am Bildungsprozess Beteiligten erschwert, die Aufrechterhaltung des Bildungsauftrages in Extremsituationen gefährdet und wichtige Kernkompetenzen für unsere Schüler*innen nicht ausreichend ausgeprägt. Ebenso unbestritten ist jedoch auch, dass eine zu unüberlegte und naive Digitalisierung ein hohes Gefährdungspotenzial besitzt – von Persönlichkeitsrechten der Schüler*innen und Lehrkräfte über die Chancengleichheit bei der Ausstattung bis hin zur Entgrenzung von Arbeitszeit, zu fehlenden sozialen Kontakten und der Gefahr von Missbrauch z. B. in der dualen Berufsausbildung.
Eine kritische Begleitung des Prozesses und Hinterfragung der oben angesprochenen Punkte ist daher unabdingbar.
Unsere Arbeit ist auch soziale Arbeit
Als Lehrkräfte leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung unserer Schüler*innen: Miteinander respektvoll zu kommunizieren und Fachwissen in gemeinsam erarbeiteten Projekten zusammenzubringen ist nur möglich,wenn die Beteiligten sich real begegnen. Neben der Herausbildung von Fachkompetenz ist zudem die Entwicklung von Methoden- und Sozialkompetenz für die berufliche Zukunft junger Menschen entscheidend. Hybride Unterrichtsformate sollen deshalb auf Ausnahmesituationen beschränkt bleiben (z. B. Krankheiten, bei denen die Teilnahme am Unterricht nur digital möglich ist,Havarien etc.).Geplante, komplett digitale Unterrichtssequenzen müssen in ihrem zeitlichen Umfang an die Bildungsgänge angepasst werden und deutlich weniger Anteil als Präsenzphasen aufweisen.
Rechtliche Rahmenbedingungen sind abzusichern
Rechtlich werden mehrere Aspekte durch das Blended Learning berührt. Zum einem muss durch geeignete informations- und verwaltungstechnische Maßnahmen sichergestellt sein, dass die Wahrung von Persönlichkeitsrechten in gemischten Lernformaten gegenüber reinem Präsenzunterricht vergleichbar gegeben ist. Das betrifft z. B. das Aufzeichnen des Unterrichts oder Teilen davon, die Einhaltung von Datenschutzstandards und eine rechtlich sichere Verwaltungsvorschrift, in der Handlungen, die gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen oder die Persönlichkeitsrechte verletzen, klar benannt sind.
Weiterhin ist zu klären, wie der neue Lernstandort „zu Hause“ in die entsprechenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse rechtssicher eingebunden wird. Wie wird sichergestellt, dass alle Berufsschüler*innen unter vergleichbaren Bedingungen an digitalen Unterrichtssequenzen teilnehmen können, insbesondere bei vollzeitschulischen Angeboten? Welche Institution ist für die Förderung von zusätzlichen Kosten (z. B. Internetanschluss, digitale Endgeräte) zuständig? Wie werden versicherungstechnische und arbeitsschutzrechtliche Standards für den Lehr- und Lernstandort „zu Hause“ geregelt?
In den Fällen der dualen Ausbildung muss sichergestellt sein, dass Auszubildende, welche digitale Unterrichtssequenzen im Lernstandort „Ausbildungsbetrieb“ absolvieren, auch tatsächlich für den Berufsschulunterricht gemäß Berufsbildungsgesetz freigestellt sind. In Phasen digitaler Unterrichtssequenzen bedarf es zudem für Lernende und Lehrkräfte einer klaren Abgrenzung der Arbeitszeit gegenüber der Freizeit, um eine Entgrenzung der Arbeitszeit zu verhindern.
Blended Learning darf sich nicht an ökonomischen Zielen orientieren
Die positiven Aspekte des Blended Learning liegen auf der Hand: Hybridunterricht ermöglicht z. B. einer schwangeren Schülerin mit Beschäftigungsverbot oder einem Auszubildenden mit gebrochenem Bein die Teilnahme am Berufsschulunterricht. Je nach Ausbildungsgang und beruflicher Ausrichtung ist es möglich, einige Unterrichtssequenzen im rein digitalen Format durchzuführen. Damit werden Ausbildungs- bzw. Schulabbrüche vermieden und Fahrtzeiten sowie Fahrtkosten eingespart, was zusätzlich einen positiven ökologischen Aspekt nach sich zieht. Zudem werden die Kompetenzen in der Nutzung digitaler Hilfsmittel auch für die allgemeine Persönlichkeitsbildung gestärkt. Diese Ressourcen gilt es, verantwortungsvoll zu nutzen.
Kritisch zu sehen sind jedoch die Möglichkeiten, Blended Learning vordergründig zur Verwirklichung ökonomischer Ziele zu benutzen und die Lernenden und Lehrenden damit zusätzlich zu belasten. Insbesondere in Zeiten des Lehrkräftemangels ist es ein charmanter Gedanke, durch Klassenzusammenlegungen im digitalen Unterricht Lehrkräfte einzusparen, da somit die Stellgröße „Klassenzimmergröße“ keine Rolle mehr spielt. Bedacht wird dabei nicht, dass die Betreuung einer Klasse auch digital nicht nur aus dem Unterricht besteht. Es müssen z. B.zusätzliche Leistungskontrollen bewertet werden und gehäuft Nachfragen beantwortet werden. Zudem steigt der Grad der Anonymisierung. Gerade die Corona-Zeit hat gezeigt: Bei ausschließlich digitalem Unterricht „verlieren wir die Verlierer“. Lernende, die sowieso schon wenig Unterstützung von Elternhaus und/oder Ausbildungsbetrieb erhalten und vermehrt individuelle Hilfe bei der Erfassung der Unterrichtsinhalte benötigen, fallen durchs Raster.
Weiterhin unterscheidet sich ein digitales Lernangebot wesentlich von den Methoden eines Präsenzunterrichtes. Wenn also beides parallel betrieben wird,tritt eine zusätzliche zeitliche Belastung der Lehrkraft auf, die kompensiert werden muss. Bei Auszubildenden im dualen Ausbildungssystem besteht die Gefahr, dass im Betrieb kurzfristig auftretende Engpässe durch Azubis im Distanzunterricht aufgefangen werden („Fass doch mal eben zehn Minuten mit an“) oder diese schlimmstenfalls schon bewusst in den betrieblichen Ablauf eingeplant werden, um Personalkosten zu sparen („Deutsch brauchst du doch nicht“).
Das Fazit liegt nahe: Die Erweiterung der Unterrichtsgestaltung durch Elemente des Blended Learning ist ein notwendiger Prozess und kann für alle am Lernprozess Beteiligten auch sinnvoll und positiv gestaltet werden – die Gefahren dürfen aber nicht aus dem Blickfeld geraten. Die GEW als Bildungsgewerkschaft wird diesen Prozess gemeinsam mit den Schwestergewerkschaften im DGB weiterhin konstruktiv und kritisch begleiten.