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12. Wissenschaftskonferenz der GEW in Bremerhaven

Die Erfindung der „eierlegenden Wollmilchsau“ oder: Wie soll Arbeitszeiterfassung in der Wissenschaft funktionieren?

Ende Februar trafen sich Mitglieder von Hochschulpersonalräten aus ganz Deutschland zum alljährlichen Qualifizierungsseminar der GEW, diesmal in Bremen. Dem schloss sich die 12. Wissenschaftskonferenz der GEW in Bremerhaven an. Damit war eine ganze Woche Zeit, um über aktuelle Fragen, die wissenschaftlich Beschäftigte umtreiben, zu diskutieren.

Zwei Themen, die auf den ersten Blick scheinbar kaum etwas miteinander zu tun haben, standen dabei immer wieder im Mittelpunkt – Machtmissbrauch und Arbeitszeit. Und doch gibt es enge Zusammenhänge angesichts dreifacher Abhängigkeiten der Beschäftigten in befristeten (meist Teilzeit-)Arbeitsverhältnissen von einer Person, die ihre Qualifizierungsschrift betreut und später bewertet, zudem zwischenzeitlich mehrfach über die Verlängerung des Arbeitsverhältnisses entscheidet.

Vorweg: Machtmissbrauch findet nicht immer und nicht überall im Wissenschaftssystem statt, aber es gibt ihn – und dort, wo es ihn gibt, ist er ein Problem. Und nicht selten beginnt Machtmissbrauch mit Forderungen nach maßloser Entgrenzung von Arbeitszeit. Erwartungshaltungen von Vorgesetzten, dass Texte über Nacht geschrieben, Berichte am Wochenende fertiggestellt, Feiertage zum Arbeiten genutzt und in der Freizeit promoviert wird, sind nicht selten. Hinzu kommt bei zahlreichen Beschäftigten ein gehöriges Maß an Selbstausbeutung: Student X wartet dringend auf das Ergebnis seiner Hausarbeit, Studentin Y braucht genau jetzt telefonischen Beistand, weil mit der Abschlussarbeit scheinbar gar nichts läuft …

Zur ehrlichen Beschreibung der Situation gehört aber auch, dass sich Beschäftigte in der Wissenschaft seit Jahrzehnten an die Freiheit gewöhnt haben, zu arbeiten, wann, wo und wie lange sie es selbst für richtig halten. Vertrauensarbeitszeit gehört zur Freiheit der Wissenschaft und kann scheinbar ohnehin nicht erfasst werden. Bei manchen Beschäftigten in unbefristeten Vollzeitstellen nimmt zudem möglicherweise das Ausmaß der (Selbst-)Ausbeutung ab, ohne ganz zu verschwinden – und natürlich bestätigen auch hier die Ausnahmen die Regel – in beide Richtungen.

Auf diese Gemengelage trafen die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom Mai 2019 und des Bundesarbeitsgerichts vom September 2022, wonach Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu erfassen. Und das gilt eben auch für die Wissenschaft. Bereits im Januar 2024 veröffentlichte die Bundesfachgruppe Hochschule und Forschung der GEW eine Argumentationshilfe, die auch Grundlage zahlreicher Vorträge, Diskussionen und Gespräche während und am Rande der Konferenzen in Bremen und Bremerhaven waren. Bereits in der Einführung wird deutlich, dass in Hochschulen ebenso wie in Schulen die einfache Formel „Anwesenheit = Arbeit, Abwesenheit = keine Arbeit“ nicht gilt.

Mindestens ebenso deutlich wird aber auch, dass es zahlreiche Vorbehalte, Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit einem bevorstehenden regelrechten Kulturwandel in der Wissenschaft gibt. Und dennoch entschied sich die Bundesfachgruppe für ein starkes Plädoyer für die Erfassung von  Arbeitszeit: „Denn wir haben viel zu gewinnen: im echten Sinne tarifgerechte Bezahlung, geregelten Ausgleich für geleistete Mehrarbeit, tatsächliche Zeitautonomie, Stärkung der betrieblichen Interessenvertretungen, Stärkung des Inklusionsgedankens, verbesserte Vereinbarkeit von Privatleben und wissenschaftlicher Karriere und last but not least die Stärkung eines arbeitsrechtlichen (Selbst-)Bewusstseins, denn Arbeitsschutz und Arbeitsrecht dürfen an den Türen der Hochschulen und Forschungsinstitute nicht Halt machen.“

So weit, so gut. Wie aber soll das in der Realität aussehen? An den Hochschulen in Brandenburg steht der Abschluss entsprechender Dienstvereinbarungen – weil von der Landesregierung ausdrücklich eingefordert – kurz bevor. Nicht wenige Ministerien, Personalabteilungen und auch Personalräte in anderen Bundesländern schieben die Frage aber vor sich her, scheint doch die Lösung der Quadratur des Kreises oder der Erfindung der „eierlegenden Wollmilchsau“ zu gleichen.

Doch auch in Sachsen-Anhalt gibt es erste Ansätze, die zumindest den Weg hin zu eigenen Dienstvereinbarungen im Hochschulbereich öffnen. So traf sich Anfang März auf Initiative der Dienststelle mit ausdrücklicher Unterstützung des Personalrats in der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg erstmals eine Arbeitsgruppe, deren Ziel es ist, Regeln für die Erfassung von Arbeitszeit und Möglichkeiten zu deren Umsetzung zu diskutieren. Wie auch bei den Veranstaltungen in Bremen und Bremerhaven standen hier die Begriffe von „eigennützigen“ (d. h. Qualifizierung) und „fremdnützigen“ (d. h. von Vorgesetzten angewiesenen bzw. in den Tätigkeitsbeschreibungen definierten) Tätigkeiten im Raum. Und auch hier wurden die Begriffe selbst als wenig treffend, aber dennoch wenigstens vorübergehend hilfreich hinsichtlich der Trennung beider Arbeitsfelder betrachtet. Rechtsanwalt Simon Pschorr hatte im Rahmen des Qualifizierungsseminars den Gedanken entwickelt, dass eine getrennte Erfassung beider Felder Aspekte des Arbeitsschutzes umsetzen kann, ohne dabei die Zeit- und Ortsunabhängigkeit wissenschaftlicher Tätigkeiten unnötig einzuschränken. Zudem könnte damit sichtbar gemacht werden, ob der im Hochschulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt geforderte „Zeitanteil von der Hälfte der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit zur eigenen wissenschaftlichen oder künstlerischen Qualifikation“ (HSG-LSA § 42, Abs. 2) tatsächlich gewährt wird. Doch auch hier liegt der sprichwörtliche Teufel im Detail.

Wie kann man „eigennützige“ von „fremdnütziger“ Arbeit trennen, wenn bei der Vorbereitung von Lehrveranstaltungen plötzlich die lange gesuchte Idee für das Fortschreiben der Dissertation im Raum steht oder wenn im Rahmen eines Disputs zum eigenen Forschungsthema „ganz nebenbei“ Gedanken zum Seminar entwickelt werden? Und ist es überhaupt noch Arbeit oder nicht doch auch Freizeit, wenn der Medienwissenschaftler Spaß daran hat, einen Film anzuschauen, den er im Rahmen seiner Forschung analysieren oder wenn die Literaturwissenschaftlerin mit Begeisterung einen Roman liest, den sie im nächsten Seminar diskutieren will? Hinzu kommen äußere Zwänge, die eine einzelne Universität nicht beeinflussen kann: Konferenzen an Wochenenden, von Verlagen vorgegebene knappe Korrekturfristen, Förderprogramme, für die Anträge in wenigen Tagen geschrieben sein müssen, oder Zeitverschiebungen bei gemeinsamen Online-Veranstaltungen mit Hochschulen in anderen Ländern scheinen so gar nicht zu geregelten Arbeitszeiten außerhalb von Wochenenden, Feiertagen und Nächten zu passen. Sie finden gewiss nicht täglich statt, aber sie gehören zum ganz normalen Hochschulalltag.

Diese und zahlreiche andere Fragen erreichten recht schnell auch den Personalrat der Otto-von-Guericke-Universität. Für Beschäftigte außerhalb der Wissenschaft, die an Hochschulen seit Jahren ihre Arbeitszeit erfassen, klingen sie oft recht weit hergeholt. Aber sie werden – neben zahlreichen anderen – von denen gestellt, für die Arbeitszeiterfassung bisher in ihrem Berufsleben keine Rolle spielte und die sich plötzlich in der Lage sehen, über Höchstarbeits- zeit, Mindestpausenzeiten und dergleichen nachdenken zu müssen.  Die traditionelle Aufgabe von Wissenschaft, alles zu hinterfragen und zu analysieren, erleichtert die Sache nicht gerade und macht die Diskussion für „Außenstehende“, weil nicht wissenschaftlich Beschäftigte, auch in Dienststellen und Personalräten, aber nicht gerade verständlicher. Und dann sind da auch noch Vorgesetzte, die sich teilweise vehement dagegen wehren, dass ihre verfassungsmäßig garantierte Freiheit der Wissenschaft eingeengt werden könnte, wenn Beschäftigte demnächst möglicherweise auf ein gehöriges Maß an Mehrarbeit verweisen.

Die Gemengelage scheint aussichtslos. Wissenschaftliche Beschäftigte in Personalräten, die sich auf den Weg zu mehr Gerechtigkeit machen wollen, finden sich plötzlich zwischen allen Stühlen wieder. Aber wir sind es den Beschäftigten schuldig, Bedingungen für eine fairere Arbeitszeitgestaltung zu schaffen, ohne dabei die Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit aufzugeben. Vielleicht ist ein gehöriges Maß an Optimismus notwendig, um daran zu glauben, dass es gelingt. Die Probleme von Machtmissbrauch werden mit Sicherheit nicht gelöst, weil plötzlich Arbeitszeiten erfasst werden. Das, was heute noch ein riesiger, kaum zu bewältigender Schritt zu sein scheint, kann aber zu einem kleinen Schritt hin zu mehr Verständnis und damit auch zum besseren Schutz vor (Selbst-)Ausbeutung werden. 

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