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Reaktion zur „Vorgriffstunde“

Die Politik hat mangelnde Kenntnisse vom Schulalltag!

Uns erreichte ein Offener Brief des Kollegiums der Kooperativen Gesamtschule „Wilhelm von Humboldt“ Halle, in dem sich das Kollegium zur neu eingeführten „Vorgriffstunde“ äußert und den wir hier veröffentlichen.

Die Politik missachtet die Belastungen der Lehrkräfte!


Sehr geehrte Frau Ministerin Feußner,

mit Betroffenheit haben wir die Ergebnisse des letzten Bildungsgipfels zur Kenntnis genommen.

Es ist nicht die verordnete EINE zusätzliche Unterrichtsstunde, die so manche Lehrkraft überlegen lässt, ob sie auch weiterhin diesen Beruf ausführen kann. Es ist die zu spürende Nichtachtung vor unserer Arbeit und die in den letzten Jahren immer weiter gestiegene Mehrbelastung, die von der Landesregierung über all die Jahre ignoriert wurde. Vorschläge, Hilferufe, das Angebot, mit uns Lehrerinnen und Lehrer ins Gespräch zu kommen, wurden bisher immer wieder überhört und abgelehnt. So sind die meisten Lehrkräfte nicht zum Vergnügen in Teilzeit und verzichten damit auf einen nicht unerheblichen Teil ihrer Bezüge, sondern weil sie nur so noch die Möglichkeit für sich sehen, den Anforderungen zu entsprechen und dabei gesund zu bleiben.

Ein fehlendes Verständnis für die Probleme der Lehrerinnen und Lehrer spiegelt eine falsche gesellschaftliche Vorstellung von unserem Beruf wider, welche schon lange nicht mehr der Realität entspricht. Scheinbar sind die Vorstellungen im Bildungsministerium ähnlich realitätsfern. Um die Situation in vielen Schulen zu verdeutlichen, werden im Folgenden konkrete Sachverhalte geschildert.

Seit 2010 wurde die Inklusion von Förderschülerinnen und -schülern zum erklärten Ziel der Landesregierung. Ohne umsetzbares Konzept, ohne entsprechende räumliche, materielle und personelle Ausstattung mussten die Schulen alle Kinder mit Förderbedarf aufnehmen. Allein die Eltern durften und dürfen bestimmen, an welcher Schule ihr Kind lernen soll. Es gib keine zentrale Lenkung oder Beschränkung zur Aufnahme, was dazu führt, dass an weiterführenden Schulen, vor allem an Gesamt- und Sekundarschulen, teilweise mehr Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf und Förderplänen lernen als Lernende ohne attestierte Defizite. Die damals noch gültige Festlegung, dass bei der Aufnahme Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf doppelt gezählt werden und dadurch die Klassenstärke reduziert werden kann, wurde seit zwei Jahren auch für unsere Kooperative Gesamtschule aufgehoben. Dass selbst das Land Sachsen-Anhalt öffentlich von einem Scheitern der Inklusion gesprochen hat (Marcus Tullner, ZEIT ONLINE, 22. Dezember 2017) hat leider nicht zur Folge, neue Ansätze der Umsetzung der Inklusion zu überlegen.

Eine weitere Herausforderung für die Schulen kam 2015 mit der ersten großen Flüchtlingsbewegung. Wie überall bekamen die Asylsuchenden vor allem in den sozial schwachen Wohnvierteln Wohnraum und Schulplätze. Die Auswirkungen der damit einhergehenden Verstärkung sozioökonomischer und ethnischer Segregation ist vor allem in den in diesen Stadtteilen liegenden Schulen zu spüren. Die Schulen mussten die Situation ohne entsprechende zusätzliche Lehrkräfte, pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Fachkräfte der Schulsozialarbeit bewerkstelligen. Es fehlt vor allem an personeller Unterstützung aus den jeweiligen Herkunftsgebieten. Daher können die Probleme, die auftreten, wenn Kinder und Jugendliche aus (bei uns ca. 20) verschiedenen Ländern und Kulturen zusammen unterrichtet werden, nicht adäquat bewältigt werden. Die Schwierigkeiten ergeben sich vor allem auch in der Elternarbeit, da diese aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse und zum Teil anderen Vorstellungen von Schule oft nur schwer möglich ist. Somit fehlen entscheidende Grundlagen der pädagogischen Arbeit, Vorurteile und Ängste der Eltern können nicht abgebaut werden und die von uns gewünschte Integration und persönliche Entwicklung der Kinder kann nicht stattfinden. Immer öfter schaffen Lernende mit Migrationshintergrund die Anforderungen nicht, bleiben der Schule unentschuldigt fern und brechen die Schule ohne Abschluss und Perspektive ab. Wir haben mehrfach versucht, jungen, engagierten Menschen mit Migrationshintergrund zu helfen, eine Anstellung als pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei uns zu bekommen, leider ohne Erfolg. Die akademisch gebildeten, gut deutschsprechenden Frauen und Männer – zum Teil mit pädagogischem Abschluss – würden nicht nur unser Kollegium bereichern, sondern uns vor allem helfen, eine zielführende Elternarbeit zu ermöglichen, und dadurch den Kindern eine Chance auf eine gute Zukunft in Deutschland zu geben.

Die zu Beginn des Jahres 2020 einsetzende Corona-Pandemie stellte die Schulen erneut vor große Herausforderungen. Viele Kinder, vor allem aus sozial schwachen oder bildungsfernen Familien, verloren den Anschluss und gerieten ins Abseits. Die zwischenzeitlich ausgesetzte Schulpflicht wurde von vielen Kindern und deren Eltern missverstanden. Das Problem des Schulabsentismus hat sich weiter verstärkt und ist kaum noch zu lösen.

Als die Corona-Pandemie weitestgehend überwunden war, fing 2022 der Russisch-Ukrainische Krieg an und es kamen viele ukrainische Kinder, die beschult werden mussten. An unserer Schule wurden zwei ukrainische Lehrerkräfte befristet eingestellt, um den ukrainischen Schülern das Ankommen zu erleichtern und die deutsche Sprache zu vermitteln. Doch schon nach wenigen Wochen wurden auch die meisten ukrainischen Lernenden trotz fehlender Deutschkenntnisse in die Regelklassen integriert. Das erfordert erneut das Engagement der Lehrkräfte, die nun vor Klassen stehen, in denen Kinder mit sozialen und psychischen Beeinträchtigungen, Kinder mit Lernschwierigkeiten, Kinder mit verschiedensten Muttersprachen und Kulturen, Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen und Kinder ohne deutsche Sprachkenntnisse lernen. Das erfordert nicht nur ein gutes pädagogisches Geschick, sondern vor allem viel zusätzliche Zeit für differenzierte Vorbereitungen, modifizierte Leistungserhebungen, individuelle Gespräche zum Leistungsstand und zum Verhalten mit den Lernenden und Eltern, Förderpläne, Erstellung von Gutachten, erforderliche Einschätzungen und Beurteilungen, Mobbingprävention, Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, mit Psychologen, Ärzten, … – eine Liste der nicht anrechnungsfähigen Mehrarbeit ließe sich weiter fortsetzen.

Das alles findet nirgendwo Berücksichtigung und Anerkennung, vermutlich auch aufgrund mangelnder Kenntnisse vom Schulalltag. Das Unterrichten unter solchen Bedingungen führt zu einer hohen physischen und psychischen Belastung der Lehrkräfte, was sich zum Teil in den hohen Krankenständen dieser Berufsgruppe widerspiegelt. Wenn wir hier nicht mit geeigneten schulischen Konzepten auch zur Anrechnung der individuellen Arbeitszeiten außerhalb des Unterrichts gegensteuern, werden wir auch weiterhin keine guten, engagierten Lehrerinnen und Lehrer finden.

Nicht die für alle angewiesene zusätzliche Unterrichtsstunde ist es also, die uns empört, sondern das Nichtbeachten der hohen Belastung der Lehrkräfte. Da sich die Belastungen individuell sehr stark unterscheiden, in Abhängigkeit vom Schulstandort, den zu unterrichtenden Unterrichtsfächern und Klassenstufen, einer etwaigen Klassenlehrertätigkeit, Durchführung von Klassenfahrten, der Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf und mit Migrationshintergrund in den jeweiligen Klassen, dem Einsatz in Prüfungen sowie der Betreuung von Studierenden, Lehrkräften im Vorbereitungsdienst, Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern, Praktikantinnen und Praktikanten sowie externen Fachkräften …, muss es individuelle Anrechnungen geben, die es den Lehrkräften ermöglichen, den geschilderten Anforderungen gerecht werden zu können.

 

Mit freundlichen Grüßen

Der Personalrat der KGS „Wilhelm von Humboldt“
stellvertretend für das Kollegium

07.03.2023