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Kommentar

Große Ungerechtigkeit

EuW-Redaktionsmitglied Rolf Hamm äußert sich zum gegliederten Schulwesen. Die Bedingungen an Sekundar- und Gemeinschaftsschulen verschlechtern sich immer mehr. Ein Kommentar zum Thema Chancengerechtigkeit im Schulsystem.

Unmittelbar nach der Wende Anfang der 90er Jahre hatten wir eine erbitterte Debatte, ob wir unbedingt das gegliederte Schulwesen brauchen. Letztendlich haben sich die Befürworter dieses Systems durchgesetzt und hoch und heilig versprochen, dass doch die Durchlässigkeit in alle Richtungen gegeben ist. Damit werde ja wohl ausreichend Chancengerechtigkeit garantiert, denn auch Spätentwickler könnten noch jeden Abschluss erreichen. Selbst als wir noch mehr Lehrkräfte an allen Schulformen hatten, als wir eigentlich brauchten, zeigte sich, dass zwar Rückschulungen vom Gymnasium an die Sekundarschulen bald tägliche Praxis wurden (der/die gehört doch da nicht hin!), der umgekehrte Weg, nämlich ein später Wechsel ans Gymnasium gelang nur ganz wenigen. Durchlässigkeit als Parole ja, als gelebte Praxis eine Einbahnstraße. Schon damals machte das Wort von der Sekundarschule als „Restschule“ die Runde. Auch unter den Lehramtsstudierenden hat sich dieser Status herumgesprochen. Viel mehr Abiturient*innen wollen Gymnasiallehrkräfte werden. Für Sekundarschulen gibt es viel zu wenig Interessenten. Auch Lehrkräfte wollen lieber nicht an der „Restschule“ arbeiten.

Die Eltern versuchten und versuchen auch heute, ihre Kinder auf jeden Fall im Gymnasium unterzubringen. Und es wird immer schwerer, sie davon abzuhalten, denn die Bedingungen heute an den Sekundar- und Gemeinschaftsschulen verschlechtern sich sowohl für Schüler*innen als auch für Lehrkräfte von Jahr zu Jahr. Die durchschnittliche Unterrichtsversorgung beträgt aktuell etwas mehr als 89 Prozent. Man kann getrost davon ausgehen, dass es bei diesem Durchschnitt einzelne Schulen mit unter 75 Prozent Unterrichtsversorgung gibt. War früher die Durchlässigkeit zum Gymnasium schon ein ziemlich leeres Versprechen, wird es nun ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst bei bestem Willen können Sekundarschüler*innen nach Klasse 5 nicht mehr die Voraussetzungen für einen späten Wechsel schaffen. Sie haben einfach keinen Unterricht mehr in Fächern, die sie für das Gymnasium bräuchten, oder es ist zu wenig davon im Angebot. Bleiben die Schüler*innen an den Sekundarschulen, erhalten sie nicht den notwendigen Unterricht, um in einer Berufsausbildung zu bestehen. Was das für Unternehmen bedeutet, die händeringend nach Azubis suchen, ist offensichtlich. Es ist für die Wirtschaft schon jetzt eine Katastrophe.

Ich frage mich, ob man im Bildungsministerium diese Entwicklung nicht erkennt oder den Zustand einfach ignoriert. Die nun angestrebten Modelle 4+1 mit einem Tag Homeschooling oder die Verkürzung der Unterrichtsstunden um fünf Minuten schaffen mehr Probleme als sie lösen. Die „große Ungerechtigkeit“ bekommt nur ein anderes Gesicht. Wer an Sekundarschulen und an Gemeinschaftsschulen lernt, ist Verlierer.

Längst hätte die Lehrerausbildung reformiert werden müssen. Es kann nicht sein, dass einem beträchtlichen Teil der Schülerschaft Unterricht in Größenordnungen vorenthalten wird, während Gymnasiasten von dieser Plage weitgehend verschont bleiben. Die Lehrerausbildung gehört vereinheitlicht. Das Statusdenken ist nicht länger haltbar! Wer als Lehrkraft ausgebildet wurde, muss dort arbeiten, wo man am meisten gebraucht wird und nicht unbedingt da, wo es dem eigenen Status entspricht. Das ist Lehrerethos, denn alle Kinder haben den gleichen Wert!