Handreichung des Bildungsministeriums zum Seiteneinstieg
Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht ...
Dass die Ausbildung von jungen Lehrkräften in Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren sträflich vernachlässigt wurde, dürfte selbst für die heute politisch Verantwortlichen nicht mehr zu leugnen sein. Hinzu kommt eine deutlich restriktive Einstellungspolitik, die dazu geführt hat, dass die Altersverteilung unter den Lehrkräften extrem inhomogen ist. Es fehlt der komplette „Mittelbau“ in der Alterskurve, während hunderte Kolleg*innen kurz vor dem ruhestandsfähigen Alter stehen.
Die immensen Bedarfslücken sollen und müssen nun zu großen Teilen über den Seiteneinstieg zumindest ansatzweise geschlossen werden. Wie groß die Not ist, zeigt sich an den stetig gesunkenen Anforderungen, die man an Seiteneinstiegswillige stellt. War ursprünglich ein Hochschulabschluss unabdingbare Voraussetzung, so kann man nunmehr auch mit abgeschlossenem Realschulabschluss sowie Berufsausbildung eine Lehrtätigkeit aufnehmen. Das Bildungswesen Sachsen-Anhalts ist ohne Seiteneinsteiger*innen nicht mehr denkbar. Seiteneinstieg bedeutet jedoch auch zwingend Nachqualifizierung namentlich im pädagogisch-didaktischen Bereich. Die enorme Vielfalt der mitgebrachten beruflichen Voraussetzungen muss sich dementsprechend auch in der Art und Weise widerspiegeln, wie die Aus- und Weiterbildung sowie die Eingliederung in schulische Abläufe zu erfolgen haben. Dazu hat das LISA in Zusammenarbeit mit dem Landesschulamt eine Handreichung entwickelt, welche diesem Anspruch Rechnung tragen soll.
Wird das Papier diesem Anspruch nun gerecht?
Eine erste Variante gab es bereits 2019. Damals waren die Anzahl von Seiteneinsteigenden sowie deren Heterogenität geringer als heute, die Grundprobleme sind jedoch geblieben. Als Kernprobleme seien genannt: hohe Arbeitsbelastung, Fächeranerkennung, fehlende bzw. intransparente Perspektiven, Willkommenskultur/ Unterstützungssysteme an der Schule (→ Forderungskatalog der GEW Sachsen-Anhalt zum Seiteneinstieg). Während die Fächeranerkennung naturgemäß nicht Thema der 2023 neu aufgelegten Handreichung sein konnte, sollte man annehmen, dass die verbliebenen Problemfelder in der Zwischenzeit aufgearbeitet wurden. Dem ist leider nicht so.
Die Forderung, der Handreichung formalen Erlasscharakter zu verleihen, wurde nicht umgesetzt. Das Ministerium für Bildung sieht die Handreichung als erlassgleich an, nicht wenige Schulleitungen messen dem Papier lediglich Empfehlungscharakter zu und handeln entsprechend. Das beginnt bei der sachgerechten Verwendung der zwei ausgereichten Anrechnungsstunden für „erfahrene Lehrkräfte“ – warum werden diese nicht wie im Ausbildungserlass für Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst als Mentoren bezeichnet, warum diese linguistische Verrenkung? Wer kontrolliert in der Praxis denn wirklich den ausschließlichen Einsatz der Kolleg*innen in den abgeleiteten Fächern oder „dem“ Neigungsfach? Explizit mentor*innengestützter Unterricht wird in der Handreichung nicht vorgesehen, eine qualifizierte Fehleranalyse durch „erfahrene Lehrkräfte“ kann so nicht stattfinden. Dennoch sollen Bilanzgespräche stattfinden. Ebenso fehlt das Verbot von Klassenleitertätigkeit während der Probezeit, und so gibt es an den Schulen tatsächlich nicht entfristete seiteneinsteigende Klassenleiter*innen.
Mangelhafte Umsetzung
Insgesamt bleibt die Handreichung hinter den Erfordernissen der Praxis zurück! Seiteneinsteigende benötigen eine schrittweise Heranführung an die selbständige Lehrtätigkeit. Ausgehend vom vorgeschalteten Einführungskurs, welcher der Vielfalt der Teilnehmenden inhaltlich Rechnung tragen muss, hat nachfolgend ein Stufenplan (ähnlich der Ausbildungsverordnung) einzusetzen, der ein Aufwachsen der eigenverantwortlichen Lehrtätigkeit zum Ende der Probezeit sicherstellt. Ein solcher Stufenplan wurde im Landesschulamt entwickelt und von den Lehrerbezirkspersonalräten offenbar für sinnvoll befunden. Das Bildungsministerium lehnte diese Herangehensweise letztendlich ab, man befürchtete den Verlust von Arbeitsstunden in der Aufbauphase. Dass mittlerweile ca. ein Drittel der Seiteneinsteigenden mutmaßlich aus Belastungsgründen – nicht selten trotz Teilzeit – wieder aus dem Dienst ausscheidet, wird hingegen in Kauf genommen, da man ja die Gründe nicht kenne. Der Irrsinn liegt eben darin, dass man mit einer ausgeprägten Willkommenskultur wohl einen Großteil der Beschäftigten halten könnte, für deren Ausscheiden man nun wieder unter hohem Einsatz von Ressourcen des LISA und des Landesschulamtes mühsam Ersatz ausbilden muss.
Öffentlich feiert man das Headhuntertum als kreative Maßnahme mit bescheidener Effizienz bei hohem finanziellen Aufwand, ist demgegenüber jedoch nicht bereit, naheliegende formale Maßnahmen zu ergreifen, um diejenigen im System zu halten, die bereits darin sind. Ob man das jemandem in der freien Wirtschaft erklären könnte?