Ich bin die GEW
Hannelore Kolbe: Spätberufene tut Gutes für andere – und für sich
Hannelore Kolbe aus Seiselitz arbeitet seit ihrem Ruhestandseintritt im Vorstand des GEW-Kreisverbands Burgenlandkreis mit. Sie organisiert allmonatlich Zusammenkünfte der Gewerkschaftssenior*innen an attraktiven Ausflugszielen.
Bereits 1964 in der DDR in den damaligen Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) eingetreten und nach der Wende quasi nahtlos in die GEW übergegangen, war Hannelore Kolbe jahrzehntelang ein, wie sie selbst sagt, „einfaches Gewerkschaftsmitglied“ – eines, das zwar Veranstaltungen der Interessenvertretung besuchte und deren Informations- und Beratungsangebote wertzuschätzen wusste, sich ansonsten aber nicht weiter gewerkschaftlich engagierte. „Nach meinem Eintritt in die Altersrente 2005 bin ich aber in ein ganz schönes Loch gefallen. Da war es eine gute Fügung, dass man mich fragte, ob ich im GEW-Kreisvorstand des Burgenlandkreises mitarbeiten und mich dort besonders des Themas Senioren annehmen möchte“, schildert die 1945 geborene Frau, die im 33-Seelen-Ort Seiselitz an der Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Thüringen wohnt.
Wir sitzen also einer, wenn man so will, „Spätberufenen“ gegenüber, die kraft ihres Engagements in der GEW Gutes für andere und für die Gesellschaft insgesamt tut – und gewissermaßen darin enthalten auch ein wenig für sich selbst. „Wissen Sie, es ist immer etwas zu tun und vorzubereiten“, freut sich die in diesem Jahr 80 Lenze zählende Dame über die sinnstiftende Aufgabe im Alter. Zudem: „Gesundheitsbedingt können mein Mann und ich nicht mehr groß in den Urlaub reisen. Die regelmäßigen Theaterfahrten mit den GEW-Senior*innen, die uns allerdings nicht bloß in Theater, sondern generell an sehenswerte Orte vor allem im Burgenlandkreis, aber auch in Sachsen-Anhalt, ja Mitteldeutschland insgesamt führen, stellen da eine gute Entsprechung dar.“ Im Mai etwa haben die Alt-Gewerkschafter*innen einen Ausflug nach Ferropolis, in die Stadt aus Eisen nahe Gräfenhainichen, unternommen. Weitere Höhepunkte unter diesen selbstorganisierten Tagesfahrten bildeten Ziele wie etwa das Glockenstadtmuseum im thüringischen Apolda, die Riesaer Nudelfabrik sowie die Halloren-Schokoladenfabrik in Halle, die Rotkäppchen-Sektkellerei sowie die Neuenburg in Freyburg, das Bergbaumuseum Deuben und das Schlossmuseum in Zeitz oder eben Kabarettdarbietungen im Naumburger Turbinenhaus. „Das Schönste für mich und uns überwiegend weibliche Gewerkschaftsmitglieder in diesem Kreis ist, dass wir nicht nur über Schul- und Bildungsthemen reden, uns untereinander angefreundet haben und auch unsere Männer mit dabei sind“, erzählt Hannelore Kolbe.
An ebenjenen genannten Fachthemen ist sie gedanklich aber nach wie vor ganz nah dran. Wobei ihre eigene Positionsbestimmung zum einen auf sehr aktuellen Wahrnehmungen fußt, die sie anhand ihres im Schulbetrieb befindlichen jüngsten Enkelkindes macht, und zum anderen auf ihrem unglaublich reichen und vielfältigen Erfahrungs- und Erkenntnisschatz aus dem eigenen Berufsleben beruht.
Denn wenn man sich den Weg anschaut, den die in Naumburg aufgewachsene und Anfang der 1960er-Jahre am Institut für Lehrerbildung in Weißenfels zur Grundschullehrerin ausgebildete Hannelore Kolbe genommen hat, werden als stetig wiederkehrende Elemente eine große Vielseitigkeit und Bandbreite sowie die Fähigkeit, sich schnell auf neue Gegebenheiten einzustellen, deutlich sichtbar. Kolbe kennt noch die Dorfschule in absolut klassischer Form: An ihrem ersten Arbeitsort in Utenbach, ebenfalls an der Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Thüringen gelegen, lernten alle vier Grundschul-Klassenstufen in einem Raum zusammen. „Und immer etwa ab dem Frühjahr trat ein zunehmender Schwund ein, weil viele Kinder in der Landwirtschaft mithelfen mussten. In den letzten beiden Schulwochen im Juni waren dann mitunter noch sieben von 15 Schülern anwesend“, erinnert sie sich.
Insofern war es für Hannelore Kolbe, die ab 1967 in Utenbach sogar als einzige Lehrerin sämtliche Grundschulfächer unterrichtet hatte, schon bloß mit Blick auf die Schüler*innenzahlen und räumliche Gegebenheiten eine gewaltige Veränderung, als sie 1974 im nahegelegenen Sieglitz an eine Polytechnische Oberschule „moderner sozialistischer Art“ kam. „Es dauerte bis zu den Herbstferien, ehe ich mich in die ungewohnten Abläufe – jede Stunde ein anderer Lehrer, jede Stunde ein anderer Raum – eingefuchst hatte.“ Wobei sie parallel abermals ihre Vielseitigkeit unter Beweis stellte, indem sie neben Mathe und Kunsterziehung auch noch Geographie unterrichtete – ein Fach, mit dem sie mehr als ein Jahrzehnt zuvor zuletzt Berührungspunkte hatte. „Also habe ich mir irgendwie das nötige Fachwissen draufzuschaffen versucht. Das brachte – mein Mann war auf Montage, unser Kleiner gerade ein Jahr alt und die Arbeit und Vorbereitung in den anderen Fächern erledigte sich ja auch nicht von selbst – oft ein echt an die Grenzen der eigenen Kraft gehendes Pensum mit sich. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mal bei der Kontrolle von 37 Schularbeiten über der elften einschlief und erst Mitternacht wieder wach wurde.“
„Ich verstehe einfach nicht, wie man meint, bessere Ergebnisse erzielen zu können, indem man Klassen zu immer größeren Einheiten zusammenschmeißt.“
Auch Hannelore Kolbes Einsatz im Hort der Sieglitzer Schule ab 1988 bedeutete noch einmal eine erhebliche Umstellung. Dieses endete im Jahr 2000 unfreiwillig und vorzeitig mit Aufhebungsvertrag und Abfindung unter dem Verweis des Dienstherrn auf „zu wenig Kinder“. Es ist ein wenig eine Ironie der Geschichte, dass Hannelore Kolbe bis zum Erreichen der Altersrente 2005 demgegenüber in der örtlichen Kita als Aushilfskraft und zum Schließen personeller Lücken freilich hochwillkommen war.
Wenn man heute mit der ungeachtet ihres Alters energiegeladenen Gewerkschafterin über aktuelle Entwicklungen im Schul- und Bildungsbereich ins Gespräch kommt, erzählt sie zuerst, dass ihre große Enkeltochter, die in diesem Jahr Abitur macht, eigentlich immer Lehrerin werden wollte – „jetzt aber nicht mehr.“ Es dürfte alles andere als eine abwegige Interpretation sein, dies als Ausweis vieler Problemlagen zu sehen, die auch Hannelore Kolbe umtreiben: „Unsere zuständige Landesbildungsministerin Eva Feußner ist doch selbst Lehrerin. Ich verstehe einfach nicht, wie man meint, bessere Ergebnisse erzielen zu können, indem man Klassen zu immer größeren Einheiten zusammenschmeißt. 15 bis 20 Kinder sind ideal. Bei deutlich größeren Zahlen bekommst du gar nicht mehr mit – oder erst zu den Kontrollarbeiten, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist – welche Probleme die Schüler womöglich mit der Unterrichtsmaterie haben.“ Es führe letztlich auch zu nichts und bedeute am Ende nur eine Verlagerung des Problems auf später, das Anspruchsniveau immer weiter abzusenken – bloß, damit die Kids ihren Schulabschluss schaffen.
Hannelore Kolbe sieht einige Mängel im Bildungssystem: Die häufig fehlende Rückendeckung für das Lehrpersonal gegenüber den Eltern, die oft unzureichende pädagogisch-didaktische Ausbildung von Lehrkräften im Seiteneinstieg, dazu die sehr unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen der Schulanfänger*innen. Auch die teils absurde Individualisierung im Bildungsbereich erntet ihr Missfallen. Diese führt unter anderem dazu, „dass meine beiden in Pforzheim lebenden Enkel zwei unterschiedliche Schulausgangsschriften lernen“.