Zum Inhalt springen

GEW-Mitglieder im Fokus

Kerstin Kielgaß: Auch im Ruhestand über eigenen Tellerrand blicken

Als neu gewählte Seniorensprecherin des GEW-Landesverbandes will die Wernigeröderin Kerstin Kielgaß neugierig und entdeckungsfreudig gebliebene Altersgefährt*innen um sich scharen – freilich längst nicht nur zum Kaffeetrinken.

Foto: Andreas Löffler

Irgendwie ist es ganz passend, dass wir uns mit Kerstin Kielgaß im direkt am Marktplatz ihrer Heimatstadt Wernigerode gelegenen „Café Wien“ zum Gespräch treffen. In dem auf schöne Weise altmodischen Kaffeehaus, das in einem 1583 errichteten Fachwerkbau und damit in einem der ältesten Gebäude des Harzstädtchens residiert, ist die heute 62-Jährige bereits als Schülerin für eine kleine „Auszeit“ zwischendurch gern eingekehrt.

Und doch könnten das gediegene Ambiente und die entspannte Atmosphäre in gewisser Weise auch eine „falsche Fährte“ legen, denn: In ihrem neuen Ehrenamt bei der GEW will Kerstin Kielgaß eben „längst nicht nur Kaffeekränzchen abhalten“, wie sie sagt. Am 12. Januar dieses Jahres ist das langjährige Gewerkschaftsmitglied zur Seniorensprecherin des GEW-Landesverbandes gewählt worden. „Auch wenn es sicher nicht wenige gibt, die sich mit Ruhestandseintritt zurückziehen, sind da draußen doch ebenfalls jede Menge Ältere, die gleich mir Lust haben, am Geschehen dranzubleiben und über den eigenen Tellerrand zu schauen“, formuliert Kerstin Kielgaß ihr Credo. Und stürzt sich derweil mit Freude und Eifer in ihre neue Aufgabe: „Zunächst will ich schauen: Wie identifiziere ich diejenigen, die noch Neues ausprobieren und etwas bewegen wollen, und im zweiten Schritt: Wie aktiviere und mobilisiere ich sie?“

Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei logischerweise erst einmal dem Aufbau eines Netzwerkes: „Ich knüpfe Kontakt zu den Seniorensprecherinnen und -sprechern in den einzelnen Kreisen und Regionalverbänden Sachsen-Anhalts, um zu erfahren, welche Themen aus deren Sicht spannend sind – und auch über genau das erwähnte gemeinsame Kaffeetrinken hinausreichen.“ Auch von den regelmäßigen Zusammenkünften des GEW-Bundesseniorenausschusses, dem sie nun ebenfalls angehört, erhofft sie sich Impulse und Anregungen. „Beispielsweise konnte ich bereits einen Referenten für das Top-Thema ,Rente und Steuern‘ gewinnen. Und von einem SPD-Bundestagsabgeordneten habe ich schon das Angebot, ihn mit einer Gruppe interessierter Senior*innen mal in Berlin besuchen zu dürfen und eine exklusive Führung durch Parlament und Abgeordnetenbüros zu erhalten“, schildert die zierliche Frau mit einem Leuchten in den Augen. Wie Prozesse und Akteure auf politischer Ebene funktionierten, das habe sie schon bei einer Studienexkursion ins EU-Hauptquartier in Brüssel fasziniert.

Was die Brücke zu Kerstin Kielgaß‘ Werdegang schlägt und auch deutlich werden lässt, welch‘ ordentliche Portion an „Rüstzeug“ die Ruheständlerin in ihre ehrenamtliche Portion einzubringen vermag. „Wenn ich in der Retrospektive auf meinen beruflichen Lebenslauf blicke, fällt mir auf, dass ich in völlig verschiedenen Bereichen gearbeitet und mich – damit verbunden – gewissermaßen immer wieder selbst herausgefordert habe.“ Nach erfolgreichem Abschluss eines Diplomlehrer-Studiums für Deutsch und Kunst in Erfurt und einer ersten, kurzen Station in Teuchern bei Hohenmölsen wechselte Kerstin Kielgaß gemeinsam mit ihrem Mann, einem Erzieher, auf eigenen Wunsch an ein Heim mitsamt Schule für schwer erziehbare Kinder in Pretzsch (Elbe).

„Das war eine sehr befriedigende, weil sinnhaltige, aber eben auch strapaziöse Arbeit“, erinnert sich Kerstin Kielgaß, die sich während ihrer insgesamt fünf Jahre in Pretzsch „als Lehrerin selbst erst so richtig entdeckte“ und ihr ohnehin ausgeprägtes Gerechtigkeitsbedürfnis „nochmals angestachelt“ sah. Nicht nur von daher empfand sie es als schreiende Ungerechtigkeit, als nach der Wende – sie und die Familie mit inzwischen drei Kindern hatten sich wieder Richtung Wernigeröder Heimat orientiert – ihr bereits unterschriebener Arbeitsvertrag für die dortige Pestalozzi-Schule plötzlich Makulatur sein sollte. „Ich fühlte mich vollkommen hilflos und sah für mich schon die Felle davonschwimmen, als plötzlich der Begriff Gewerkschaft fiel. Nach den Erfahrungen mit der ja komplett auf Obrigkeitslinie liegenden FDGB-Einheitsgewerkschaft in der DDR habe ich mich damit zunächst kurze Zeit schwergetan – um bald darauf jedoch zu sehen, welche Kraft eine gemäß ihres ursprünglichen Daseinszwecks agierende Gewerkschaft zu entfalten vermag.“ Schnell war ein neuer Arbeitsvertrag für sie da – und GEW-Mitglied Kerstin Kielgaß von dem Gedanken ,Gemeinsam sind wir stark‘ durchdrungen.

Nach ihrer im Lehrerberuf zweifellos erfüllendsten Zeit an der Sekundarschule Derenburg („Wir haben dort sogar Graffiti-Sprüharbeiten angefertigt.“) durchlief die Wernigeröderin von 2008 bis 2010 eine Aufstiegsfortbildung für ihren aus gesundheitlichen Gründen erzwungenen Wechsel in die Verwaltungstätigkeit. „Ab 2011 war ich an der Hochschule Harz, interessanterweise ebenfalls für einen solchen Aufstiegsstudiengang, das Bindeglied zwischen Studierenden und Professoren – eine organisatorische Arbeit, bei der ich meine entsprechenden Kompetenzen nochmals stärken konnte“, blickt sie auf Erfahrungen zurück, die ihr jetzt von Nutzen sein können. „Natürlich wird man erst in Zukunft sehen, ob der ,Funktionärs-Mantel‘, in den ich jetzt gestiegen bin, mir auch wirklich passt oder womöglich zu groß für mich ist. Aber – und auch wenn ich körperlich vielleicht nicht mehr die Fitteste bin: Im Kopf bin ich noch hellwach. Und je mehr gleichgesinnte Altersgenossen ich finde und zum Mittun in unserem Netzwerk bewege, umso besser!“