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Bildung als Menschenrecht

Kinderrechte – auch für Flüchtlingskinder?

Heute zählt die Kinderrechtskonvention (KRK) zu den meist ratifizierten Menschenrechtsverträgen. Bis auf die USA sind alle Staaten der UN-KRK beigetreten. Am 5. April 1992 ist die UN-KRK in Deutschland in Kraft getreten. Die Situation in Deutschland hat sich aber seither drastisch verändert.

Waren es Ende der 90er Jahre vor allem Bürger aus Süd- oder Südosteuropa (Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien), haben wir es heute mit Menschen aus Asien (Afghanistan) dem Nahen Osten (Irak, Syrien) oder Afrika zu tun. Dazu kommen noch mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Sehr oft waren und sind damals wie heute Kinder und Jugendliche betroffen.

Wie steht es um deren Rechte in Deutschland und besonders in Sachsen-Anhalt? Die Redaktion der klar! hat mit Frau Professorin Sevasti Trubeta von der FH Magdeburg-Stendal gesprochen. Sie hat dort die Professur für Kindheit und Migration am Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften inne und ist Koordinatorin der Projektgruppe „Solidarische Stadtbürgerschaft – Solidarische Region Altmark“.

 

Frau Professorin Trubeta, Aufnahmeeinrichtungen sind Ihrer Meinung nach Ausnahmeorte. Ausnahmen auch bei den Kinderrechten, die doch eigentlich universell sind?

Die Aufnahmeeinrichtungen für geflüchtete Menschen stellen „Ausnahmeorte“ dar, weil die Regeln und Normen der Mehrheitsgesellschaft dort kaum greifen. Um ein Beispiel zu nennen: Die Bewohner*innen dieser Sammelunterkünfte haben kaum Einfluss auf die Gestaltung ihrer Gegenwart und ihre Zukunft ist ungewiss, denn sie sind auf die Bearbeitung und Entscheidung ihres Asylantrags angewiesen. Währenddessen leben sie in einem Wartezustand. Das lange Warten ist wie eine Situation dauerhafter Perspektivlosigkeit.

Die Kinder erleben in diesen Einrichtungen ein dauerhaftes Provisorium, insbesondere wenn sie, mitsamt ihren Familien, die Einrichtung öfters wechseln müssen. Die UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten für das Wohl des Kindes zu sorgen. Und Wohl des Kindes bedeutet bestmögliche Entwicklung, Bildung, Förderung, Mitbestimmung, Schutz. Dies soll für alle Kinder gelten, auch diejenigen, die sich in den Flüchtlingseinrichtungen aufhalten. Dennoch sind diese Kinder „nicht schulpflichtig“; das bedeutet, ihnen wird das Recht auf Bildung abgesprochen, und zwar häufig über Zeiträume von 16–18 Monaten oder auch länger. (Laut UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR waren in 2023 7 Mio. geflüchtete Kinder weltweit davon betroffen). Beschäftigungsangebote innerhalb der Einrichtung können die Regelschule nicht ersetzen.

Sevasti Trubeta ist Professorin für Kindheit und Migration an der Hochschule Magdeburg-Stendal sowie Gleichstellungsbeauftragte am dortigen Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften. (Foto: privat)

Zudem wird auch noch zwischen „guten und schlechten Flüchtlingen“ unterschieden. Was ist damit gemeint?

In der Debatte über geflüchtete Menschen kommen tatsächlich diese Begriffe vor. Auf politisch-ideologischer Ebene geht es um mehr oder weniger „akzeptierte“ Geflüchtete. In der Flüchtlingsdebatte und -politik entsprechen diese Begriffe einer Abstufung von Rechten (Sozialleistungen mitinbegriffen), die geflüchteten Menschen zugesprochen werden.

Seit einigen Jahren sind in der deutschen Migrationspolitik die Begriffe „Geflüchtete mit einer guten/schlechten Bleibeperspektive“ eingeführt worden. Die Bleibeperspektive hängt u. a. von der Einstufung des Herkunftslandes einer asylsuchenden Person als ein mehr oder weniger sicheres Land ab. Die Definition des „sicheren Landes“ hat allerdings kontroverse Debatten ausgelöst, z. B. in Hinsicht auf Afghanistan: wenn Afghanistan (unter dem Talibanregime) als sicheres Land eingestuft wird, dann sind zahlreiche Menschen, die von diesem Regime betroffen und geflüchtet sind, von Abschiebung bedroht.

 

„Geflüchtete Kinder sind keine passiven Personen, die im Schatten der Erwachsenen leben; sie können ihre eigenen Interessen vertreten.“

 

Sie haben sich besonders damit beschäftigt, ob und wie Kinder in Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland Selbstvertretung organisieren und Gehör finden können. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Im Juni 2023 haben wir uns im Rahmen unseres Fachtags „Kinderrechte in Unterkünften für Geflüchtete Menschen“ mit diesem Thema ausführlich auseinandergesetzt. Daraus entstand auch eine Publikation.

Artikel 12 der KRK verleiht jedem Kind das Recht, seine Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern. Hieran schließt sich das Recht an, dass dieser Meinung entsprechend dem Alter und der Reife des Kindes angemessenes Gewicht verliehen wird und die Kinder Gehör finden müssen. Unser Kinder- und Jugendstärkungsgesetz von 2021 verpflichtet dazu, das Selbstbestimmungsrecht von Kindern, insbesondere von unterprivilegierten Kindern, zu fördern. Die Gründung und Förderung von Kinderbeiräten wäre eine Option hierbei. Wichtig ist, dass die Stimme der Kinder in die Öffentlichkeit getragen wird. In den Einrichtungen für geflüchtete Menschen gibt es Sozialarbeiter*innen, die meistens für die Vermittlung zwischen den Geflüchteten und den Ämtern da sind. Erfahrungsgemäß sind Dolmetscher*innen unzureichend eingesetzt, sodass die Sprache für beide Seiten ein erhebliches Hindernis darstellt. Oft verrichten die Dolmetscher*innen ihre Tätigkeit im Ehrenamt. Das Jugendamt und die Träger der Kinder- und Jugendarbeit müssten auch hier unterstützen; dennoch bemängeln Interessenvertretungen geflüchteter Kinder und Familien (wie z. B. die Bundesinitiative: Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften) die unregelmäßige oder fehlende Zusammenarbeit zwischen Erstaufnahmeeinrichtungen und öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendarbeit.

Wie ich sagte, geflüchtete Kinder (wie auch alle Kinder) haben wohl eine Stimme, die aber nicht (immer) die Öffentlichkeit erreicht. Sie sind keine passiven Personen, die im Schatten der Erwachsenen leben; sie können ihre eigenen Interessen vertreten. Das zeigt sich beispielhaft bei den selbstverwalteten Schulen „Wave of Hope for the Future“, die geflüchtete Kinder und Jugendliche in griechischen Flüchtlingsunterkünften errichtet haben und europaweit vernetzt waren. Allerdings ist das kein Ersatz für die Beschulung.

 

Welche spezifischen Herausforderungen erleben geflüchtete Kinder beim Neuanfang in Deutschland, insbesondere im Bildungssystem?

Grundsätzlich kann man nicht von einem Neuanfang sprechen, solange Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen für geflüchtete Menschen leben. Sobald sie die Einrichtung verlassen dürfen, kann es einen Neuanfang geben. Der heißt Kita oder Schule. Natürlich lernen Kinder schnell eine neue Sprache, sodass Sprachbarrieren bald überwunden werden können. Wünschenswert wäre trotzdem mehrsprachiges pädagogisches Personal und auch solches, das für den Umgang mit geflüchteten Kindern ausgebildet ist. Grundsätzlich brauchen wir mehr pädagogische Fachkräfte, und das bedeutet, dass mehr Ressourcen in den Bildungsbereich einfließen müssen. Sie fragten mich nach „reinen Flüchtlingsklassen“. Wenn Segregationsklassen damit gemeint sind, dann: nein. Jetzt meine ich nicht die sog. Willkommensklassen, die zum Einstieg in die Regelschule dienen sollen, sondern Klassen, die die Kinder nach einheimischen und nicht einheimischen Kindern trennen und letzteren Defizite zuschreiben.

Die neue Landesaufnahmeeinrichtung in Stendal wird seit Anfang Mai 2024 bereits teilweise genutzt. (Foto: Matthias Tietze)

„Bildung ist kein Privileg und kein Geschenk, sondern ein Menschenrecht.“

 

In Stendal ist eine nagelneue Landesaufnahmeeinrichtung vor wenigen Wochen eröffnet worden. Wird sie es besser machen?

Die neue Landesaufnahmeeinrichtung (LAE) ist wie andere dieser Art ebenfalls abgeriegelt. Als Bewegungsmöglichkeit in die Stadt gibt es den Bus. (Eine neue Bushaltestelle ist mittlerweile in der Nähe der LAE eingerichtet worden). Die Frage wäre aber, was sollen die Bewohner*innen der LAE in Stendal, wenn sie kaum Gründe haben, um nach draußen zu gehen? Selbst viele der Verwaltungsaufgaben werden in Halberstadt erledigt, Essen wird geliefert, kein Schulbesuch für die Kinder. Man sollte darauf achten, dass kein Ghetto im Laufe der Zeit entsteht.

Unsere Projektgruppe „Solidarische Stadtbürgerschaft – Solidarische Region Altmark“ setzt sich dafür ein, sozialen Ausschließungen entgegenzuwirken, egal, welchen Aufenthaltsstatus jemand hat oder welcher Nationalität er oder sie ist. Ein besonderes Augenmerk haben wir u. a. auf der Gesundheitsversorgung von unterprivilegierten geflüchteten und migrierten Menschen. Gesundheit bzw. Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht, das allen zusteht. Dieses Thema haben wir in zwei Fachtagungen aufgegriffen: einmal im Zusammenhang mit dem anonymen Krankenschein für Menschen ohne Krankenversicherung (05.10.2022) und einmal bezüglich der elektronischen Gesundheitskarte für asylsuchende Menschen (10.01.2024). Die Dokumentation dieser Fachtagungen ist auf unserer Webseite abrufbar.

Wir lernen viel aus der Erfahrung anderer Kommunen und Bundesländer. Und diese Erfahrung zeigt, dass die Umsetzung solcher Maßnahmen realistisch und zugleich regionsspezifisch ist.

 

Welche Empfehlungen haben Sie für Bildungseinrichtungen und politische Entscheidungsträger in Sachsen-Anhalt, um den Neuanfang geflüchteter Kinder zu erleichtern?

Das kann ich kurz zusammenfassen: Wir alle, als Bürger*innen, und insbesondere die staatlichen Institutionen, sollten uns mehr an den Vorgaben der UN-Menschenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention orientieren. Mit der Ratifizierung dieser Dokumente sind wir in der Pflicht. Und es sollte immer klar sein für alle Kinder: Bildung ist kein Privileg und kein Geschenk, sondern ein Menschenrecht.

Die Redaktion bedankt sich bei Frau Prof. Sevasti Trubeta, dass sie sich die Zeit für das Interview genommen hat.