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Schullaufbahnempfehlung

Kuhhandel auf dem Rücken von Kindern, Eltern und Lehrern

Die Koalitionsparteien CDU und SPD haben abseits der Koalitionsvereinbarungen das Fass „Schullaufbahnempfehlung“ aufgemacht. Massives Drängen der CDU hatte dazu geführt. Auf dem Schacher-Tisch soll die A 13/E 13 für Grundschullehrkräfte gelegen haben. Die Zustimmung dazu erhandelte sich die CDU mit einer Änderung der Schullaufbahnvorgehensweise. Das, was die SPD dabei noch retten konnte, war die Anerkennung des Elternwillens. Ein Kuhhandel! Laut Duden ein kleinliches Aushandeln von Vorteilen oder ein übles Tauschgeschäft.

In einem im zweiten Halbjahr der Klasse 3 stattzufindenden Lernentwicklungsgespräch sollen die Eltern im Hinblick auf die weitere Schullaufbahn beraten werden. Auf Wunsch der Eltern soll hier bereits eine umfassende Einschätzung gegeben werden. Im Schuljahr 2024/2025 sollen dann Viertklässler ohne gymnasiale Empfehlung noch vor dem Erstellen der Schullaufbahnempfehlung an einem schriftlichen Test in Deutsch und Mathematik teilnehmen, das mündliche Eignungsgespräch findet an einem regionalen Gymnasium statt. Die Erziehungsberechtigten werden über das Ergebnis informiert und treffen dann letztlich die Entscheidung.

Bei all diesen Überlegungen verliert man das Kind als eigenständige Persönlichkeit jedoch völlig aus dem Blick. Bereits mit der Einschulung haben wir zunehmend mehr Kinder, die in ihrer Entwicklung mindestens anderthalb Jahre auseinanderliegen. Wir beschulen sie de facto mit allen sonderpädagogischen Ausgangslagen, ohne zusätzlich über unterstützendes Personal zu verfügen. Der Anteil an reiner Unterrichtszeit schrumpft dabei zunehmend, weil die Lehrkraft mit Erziehungsaufgaben überfrachtet ist.

Nach Zahlen des Landesamtes für Verbraucherschutz wurden Defizite am häufigsten bei der Artikulation, der Grammatik und der Feinmotorik der Kinder diagnostiziert, bei 37,7 Prozent der Vorschülerinnen und Vorschüler wurde demnach mindestens ein Defizit festgestellt. Insgesamt wurden landesweit mehr als 12.000 Kinder nach dem sogenannten standardisierten Entwicklungsscreening untersucht. Diese festgestellten Defizite treffen auf ein System, in dem Unterrichtsausfall an der Tagesordnung ist, Klassen aufgeteilt oder zusammengelegt werden, Förderschullehrkräfte abgezogen wurden, multiprofessionelle Teams nur auf dem Papier stehen und das Antragsverfahren zur Feststellung des Förderbedarfes bürokratisch überfrachtet ist. In diesem System lernen die Kinder mitunter mit einer Verweildauer von drei Jahren, manche auch länger.

Eine über dem Limit arbeitende Lehrerschaft stellt sich dann in Klasse 3 dem nächsten Entwicklungsschritt. Und der Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Kinder sieht dann so aus, dass wir bereits im zweiten Halbjahr der Klasse 3 stigmatisieren, denn nicht anders empfinden nämlich Kinder die Einteilung in „Gut“ und „Schlecht“. Das deutsche Bildungssystem ist in Europa isoliert. Kein europäisches Land leistet sich 16 verschiedene Bildungssysteme. Außer in Österreich und der Schweiz gibt es in den Ländern ein deutlich längeres gemeinsames Lernen. Die Entscheidung über den Wechsel der Schulform erfolgt beispielsweise in Griechenland nach sechs Jahren, in Ungarn nach acht Jahren, in Dänemark und Finnland nach neun Jahren.

Fördern und selektieren – wie passt das zusammen? Eine Antwort darauf findet sich in keiner Handreichung des Ministeriums. Den Weg des längeren Lernens scheuen konservative Politiker*innen nämlich wie der Teufel das Weihwasser. Doch den Schulen, insbesondere den Kindern, wäre schon geholfen, wenn vernünftige Lernbedingungen abgesichert würden. Dazu gehören u. a.: die Einstellung von Fachpersonal (Lehrkräfte, Integrationshelfer*innen, Schulsozialarbeiter*innen an jeder Schule), die Entlastung der Lehrkräfte von sinnloser Bürokratie, die Fokussierung der pädagogischen Tätigkeit auf das Unterrichten, die Absicherung einer kontinuierlichen Förderung der Schüler*innen und eine Senkung der Pflichtstunden der Lehrkräfte. Das könnte dann so wie in der Schweiz oder in den Niederlanden auch durch eine verbindliche Vorschule ergänzt werden. Der Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Kinder muss viel früher in pädagogische Hände gelegt werden. Zur Wahrheit gehört auch, dass die tägliche Anwesenheit der Kinder dann vorgeschrieben ist. Diese „Vorschule“ kann durchaus auch in den Kindergärten angelagert sein.

Wem nutzt also eine solche fokussierte Schullaufbahnempfehlung? Zum einen sollen Schüler*innen vom Gymnasium ferngehalten werden, denen man das erfolgreiche Lernen in dieser Schulform nicht zutraut. Und das soll verlässlich in Klasse 3 fest[1]gestellt werden? Da erheben wir uns über alle diesbezüglichen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Glaubt man dem CDU-Politiker Guido Heuer, Abgeordneter im Landtag von Sachsen-Anhalt und seit August 2022 Fraktionsvorsitzender, will man aber auch das Handwerk in Sachsen-Anhalt stärken. Es sollen mehr Schüler*innen der Sekundarschule zugeführt werden. Die Sekundarschule ist allerdings die Schulform, die gegenwärtig mit die schlechteste Unterrichtsversorgung hat. Nicht wenige Eltern schicken ihre Kinder auch deshalb zum Gymnasium, weil das die Schulform mit der besten Lehrerversorgung ist. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn man über Änderungen debattiert.

Sämtliche Arbeitszeitstudien belegen, dass die Lehrkräfte wöchentlich über ihrem Limit arbeiten und eine Belastung von 46 bis 48 Stunden wöchentlich der Regelfall ist. Und bekanntermaßen setzte Sachsen-Anhalt mit der Einführung der Vorgriffstunde noch eins drauf. Schlimmer geht es hier eben immer! Arbeitsverdichtungen sind also an der Tagesordnung. Dazu gehören auch die Überlegungen zur Beratungstätigkeit in Klasse 3 und die zu schreibenden Tests in Klasse 4 sowie die mündlichen Eignungsgespräche. Bis jetzt sind die Lehrkräfte mit der Wahrnehmung all ihrer Aufgaben mehr als „gut“ ausgelastet. Wenn man nun noch neue Aufgaben dazu packt, müsste man also entweder zeitliche Ressourcen dafür zuweisen oder andere Aufgaben wegnehmen. Weder das eine noch das andere ist erkennbar und somit können wir „das Kind beim Namen nennen“: Die Ausbeutung der Lehrkräfte nimmt noch mehr zu!

Wenn man lange genug im Schuldienst Sachsen-Anhalts tätig ist, erlebt man, dass sich Geschichte wiederholt. Es gab sie schon einmal, die verbindlichen Tests. An einem Samstag öffneten ausgewählte Grundschulen ihre Türen. Eine Lehrkräftekommission aus Grundschul- und Gymnasiallehrer*innen unterzog die „Wackelkandidaten“ unter den Schüler*innen einer schriftlichen und mündlichen Prüfung. Die Aufgaben dazu bewahrte man im Safe auf und es galt strengste Verschwiegenheit. Fast wie in Fort Knox. Die Nachrichten- und Diskussionsseite news4teachers.de titelte dazu am 18.07.2012: „Wahlfreiheit in Sachsen-Anhalt: Ansturm aufs Gymnasium bleibt aus“ und erklärte „während im vergangenen Jahr (2011) in Sachsen-Anhalt rund 6.200 Schüler aus der Grundschule auf das Gymnasium wechselten, sind es in diesem Jahr rund 160 mehr, wie das Kultusministerium in Magdeburg mitteilte. Die neue Entscheidungsfreiheit der Eltern bei der Schulauswahl hat damit zu keinem zusätzlichen Ansturm auf das Gymnasium geführt.“ Nun beschäftigen sich gegenwärtige Arbeitsgruppen im Bildungsministerium mit der Ausarbeitung gesetzlicher Regelungen, mit Handreichungen, mit Kompetenzrastern u. v. m. Schade um die Mühe! Und vor allem schade um die Zeit, die die Lehrerschaft damit zubringen muss. All das lenkt von unserem eigentlichen Job ab – dem Unterricht vor der Klasse!

Mit den Überlegungen zu einer fokussierten Schullaufbahnempfehlung für die Übergangsgestaltung zwischen Klasse 4 und den weiterführenden Schulen werden somit mal wieder völlig falsche Prämissen gesetzt.