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"Blended Learning" an Berufsbildenden Schulen

Landesmodellprojekt des Bildungsministeriums soll Digitalisierung voranbringen

Die Nachwirkungen der Pandemie-Jahre 2020 und 2021 befeuern die Diskussionen zur Gestaltung der beruflichen Bildung der Zukunft – auch in Sachsen-Anhalt. Es gilt, die Dellen, aber auch positiven Entwicklungen auf dem Ausbildungsmarkt zu bewerten und Erfahrungen und Erkenntnisse einzusammeln, um die einschneidenden Erfahrungen der abrupten Umstellung der Praxisphasen in Betrieb oder Praktikumseinrichtung und vor allem des Berufsschulbetriebs auf digitale Formate zu verarbeiten.

Alle sind sich scheinbar einig: Die Pandemie sorgt für einen erzwungenen Innovationsschub, die Digitalisierung ist in Debatten präsent wie nie und das hiesige Bildungsministerium ist ganz vorne mit dabei.
 

Modellprojekt an Berufsbildenden Schulen

Mit dem Titel „Blended Learning an Berufsbildenden Schulen“ macht sich das Bildungsministerium nun auf den Weg, verschiedene digitale Lehr-Lern-Settings in einer breiten Phalanx an Ausbildungsgängen der dualen und schulischen Ausbildung im regulären Ablauf modellhaft erproben zu wollen. Blended Learning meint dabei nicht mehr und nicht weniger als die Idee, dass das schulische Lehren und Lernen als organisiertes Zusammenspiel von unterschiedlichen Lernorten aus gedacht und konzipiert werden – und das als Normalfall und nicht als Ausnahmezustand.

Die Informationen zum hier vorgestellten Modellprojekt stammen aus einer Projektskizze, die von Kolleg*innen der GEW und auch Vertreter*innen anderer DGB-Gewerkschaften am 27.05.2022 in einem Gespräch im Ministerium und am 07.07.2022 im Landesausschuss für Berufsbildung Sachsen-Anhalt vorgestellt wurde. Das Projekt wurde bereits im Juni durch die Hausleitung gebilligt und befindet sich derzeit in der Umsetzung. Eine Grundlage des Projektes sind die Ergebnisse einer nicht-wissenschaftlichen, aber interessanten Befragung von Berufsschullehrer*innen zu Chancen, Risiken und Erfahrungen digitaler Unterrichtsgestaltung in der Pandemie durch das Bildungsministerium. Die Befragungsergebnisse liegen uns nicht in öffentlicher Form vor. Eine weitere zentrale Hintergrundkulisse des Projektes ist die „Empfehlung der Kultusministerkonferenz zum Einsatz digitalisierter Lehr- und Lernformate zur Beibehaltung des Fachklassenprinzips in der Berufsschule“. Die Empfehlung wurde am 09.09.2021 beschlossen und greift bereits pädagogische, didaktische und schulorganisatorische Erfahrungen aus den Lock-Down-Phasen der Pandemie auf. Das Papier benennt Kriterien wie auch Rahmenbedingungen, die als Richtschnur für die Frage dienen, wie denn die Organisation des Berufsschulunterrichts mit unterstützenden digitalen Mitteln zukünftig in den Bundesländern organisiert werden könne. Die Empfehlung zeigt weitreichende Möglichkeiten und denkbare Lehr-Lern-Settings auf, bleibt bei der Frage nach der rechtlichen Implementierung aber äußerst vage. Das Modellprojekt in Sachsen-Anhalt umfasst eine anvisierte Laufzeit von Mitte 2022 bis ca. Sommer 2027 und ist unterteilt in drei Projektphasen: eine Vorbereitungsphase, eine Konzeptionsphase und eine Erprobungsphase. In einem ersten Schritt wurden ein Interessensbekundungsverfahren ausgelobt und interessierte Schulstandorte gefunden sowie Mitglieder für die Projektarbeitsgruppe identifiziert. Wesentliche Projektakteur*innen sind das Bildungsministerium, das LISA, das Landesschulamt und die beteiligten Schulstandorte. Weiterhin sollen während des Projektes auch die Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Kammern und ggfs. auch die Wissenschaft regelmäßig eingebunden werden.

In Phase zwei werden durch die Projektgruppe konkrete Zielbestimmungen vorgenommen und schulfachliche, rechtliche, wie auch organisationale Vorbereitungen getroffen. Hierzu gehört dann auch die rechtliche Absicherung der Vorhaben, wie auch die Überprüfung und Anpassung aller notwendigen Verordnungen und Erlasse. Die Erprobungsphase stellt schließlich das Kernstück des Projektes dar, denn hier sollen dann ab dem zweiten Schulhalbjahr 2022/23 die definierten Lehr-Lern-Settings regulär im Rahmen der Beschulung der betroffenen Ausbildungsgänge oder ausgewählter Lerngruppen umgesetzt werden. Das Vorhaben wird fortlaufend gesteuert und evaluiert. Mit insgesamt ca. elf über das gesamte Bundesland verteilten Schulstandorten, 13 Ausbildungsgängen (davon elf duale Ausbildungsgänge, einer schulischer und einer Fachpraktiker*innenausbildung) kann das Modellprojekt als sehr umfangreich bezeichnet werden. Der Umfang basiert auf Zahlen aus dem Monat Mai, Änderungen sind wahrscheinlich.

Grob zusammengefasst geht es im Kern des Projektes also darum, auszuloten, ob und wie Teile des schulischen Unterrichts (z. B. Laborunterricht und fachpraktischer Unterricht) in der Ausbildung in Zukunft regulär in bestimmten Anteilen digital organisiert werden können. Digital kann dabei vieles bedeuten. Die KMK kennt hybride Formate mit Fachklassen, die teilweise an einem Ort zusammenkommen, während einzelne Schüler*innen dann digital zugeschaltet werden, aber auch das Distanzlernmodell, in dem alle Beteiligten rein digital zum Unterricht zusammenfinden oder in Abwesenheit einer Fachkraft digitale Selbstlernphasen absolvieren.
Praktisch auf das Modellvorhaben bezogen heißt das, dass beispielsweise eine feste Anzahl an Unterrichtsstunden in unterschiedlichen Fächern digital umgesetzt werden. Wie hoch dieser Anteil ist oder welche der möglichen Formate in welcher Intensität zum Einsatz kommen sollen, wie dies die Fachkräfte gewährleisten sollen oder sich das Verfahren zur Fachklassenbildung verändert, ist derzeit aber unklar und es gilt abzuwarten.
 

Projekt als potentieller Innovationstreiber

Aus Sicht unterschiedlicher politischer Akteure bietet das Projekt schon jetzt aussichtsreiche Chancen für einen Innovations- und Flexibilisierungsschub. Aus unserer Sicht bestehen jedoch umfangreiche Risiken und Unklarheiten. Im Rahmen der vorangestellten Ausgangslagen- und Zielbeschreibung der Projektskizze wird schnell klar, dass es nicht nur um das Ausloten der praktischen Chancen digitaler Lehr-Lern-Settings in Folge des pandemischen Innovations- und Digitalisierungsschubs oder um die Qualität schulischer Bildung geht. Vielmehr sollen aus Sicht des Bildungsministeriums die antizipierten Möglichkeiten dieser digitalen Gestaltungskonzepte das Instrumentarium zur Bewältigung vorpandemischer Strukturprobleme in der Organisation des Berufsschulunterrichts ergänzen. Als Ausgangslage werden kompakt und ohne Umschweife die „steigende Herausforderung bei der Fachklassenbildung“, die „steigende Herausforderung der Unterrichtsversorgung“, die „teilweise langen Anfahrtswege der Auszubildenden zum Beschulungsort“, wie auch die Unangemessenheit schulfachlicher Regelungen in Bezug auf die „Anforderungen digitaler Lehr- und Lernformate“ benannt. Konsequenterweise formuliert das Bildungsministerium in der Projektskizze dann als Zielstellung, das Projekt solle einen „Beitrag zur Sicherung der Fachklassenbildung“, einen „Beitrag zur Sicherung der Unterrichtsversorgung“ und eine „ortsunabhängige Beschulung“ leisten.

Nehmen wir eine optimistische Perspektive ein, dann stellt das Projekt sicherlich ein interessantes Vorhaben dar. Einerseits sollen die Verheißungen der Digitalisierung in der herausfordernden Gestaltung des schulischen Unterrichts der beruflichen Bildung innovativ genutzt werden, um dann andererseits ganz nebenbei konkrete strukturelle Probleme in der Organisation ebendieser anzugehen.

Stellen wir uns vor, die Projektskizze hält, was sie verspricht, so rückt die Umsetzung der gemeinsamen Forderung von Gewerkschaften, Kammern und Arbeitgebern, die Beschulung für Auszubildende wohnortnah zu gestalten, scheinbar in greifbare Nähe. Vor dem Hintergrund einer angespannten Personalsituation zukünftig Kolleg*innen aus Halle (Saale) für Unterrichtseinheiten in einer regionalen Fachklasse in Stendal einzusetzen, scheint kein Problem zu sein. Die Reduzierung des Personaleinsatzes durch reguläre Selbstlernphasen unter Zuhilfenahme digitaler Hilfsmittel ist definitiv umsetzbar.

Die Überzeichnung der Verhältnisse an dieser Stelle sei gestattet, treffen hier doch die unendlichen Möglichkeiten und Versprechen des Megatrends der Digitalisierung in Bildungssystemen auf die Ratlosigkeit der Landesregierung bei der Bewältigung der Herausforderung, das Berufsschulwesen in einem Flächenland wie Sachsen-Anhat zu organisieren, aufeinander. Nüchtern betrachtet, handelt es sich natürlich um ein Modellprojekt. Im Sinne der Sache soll es doch Erkenntnisse und Erfahrungen generieren, die allen dabei zugutekommen, die lange bekannten und breit diskutierten Strukturprobleme zu lösen. Natürlich können und werden dabei auch Chancen und Grenzen digitaler Lehr-Lern-Settings im regulären Ablauf erkundet.
 

Projekt mit blinden Flecken

Blicken wir als Gewerkschaften jedoch ebenso nüchtern, in Teilen auch kritisch auf das Projekt, dann tun sich konkrete Fragen auf, die noch zu klären sind. Folgende Anmerkungen sind festzuhalten:

  1. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Blended-Learning sind entsprechend KMK-Empfehlung durch die Länder abzusichern. Hier sehen wir für den größten Teil des Berufsschulsystems, nämlich der dualen Ausbildung, das Berufsbildungsgesetz (BBiG) tangiert. Das BBiG als Bundesgesetz kennt nur zwei Lernorte, die Berufsschule und den Betrieb (überbetriebliche Ausbildungsstätten einbezogen). Kommt nun beispielsweise regulär der Wohnort der Schüler*innen hinzu, muss klar sein, welche gesetzlichen Schutz- und Qualitätsbestimmungen hierfür gelten. Zahlt die Landesregierung dann anteilig eine Pauschale für Internetkosten? Wie sähe eine Förderrichtlinie dafür aus? Gibt es dann doch Endgeräte für alle? Wird dann der Berufsschulunterricht digital aus dem Betrieb heraus absolviert, muss auch die verbriefte Freistellung für den Unterricht umgesetzt und kontrolliert werden. Wer kann schon einschätzen, ob bei deaktivierter Gerätekamera sich Schüler*innen am Platz befinden oder an der Kasse sitzen, Reifen wechseln, eventuell auch die CNC-Fräse bedienen? Es muss schließlich geklärt sein, dass die rechtssichere Umsetzung des Ausbildungsverhältnisses, zu dem entsprechend die jeweilige Ausbildungsordnung, der Ausbildungsrahmenplan, der betriebliche Ausbildungsplan und die Rahmenlehrpläne gehören, auch unter der anteiligen Umgestaltung des Berufsschulunterrichts gewährleistet ist.
     
  2. Digitale Lehr- und Lernformate sind didaktisch wie auch pädagogisch sehr unterschiedlich konzeptionier- und umsetzbar und haben dann auch unterschiedliche Auswirkungen auf die Belastungssituation unserer Kolleg*innen. Den fachlichen Unterricht für ein reines Distanz-Setting umzugestalten, unter Einbeziehung digitaler Hilfsmittel, ist laut den Kolleg*innen aufwändig, aber kein großes Problem. Es braucht sicher mehr Vor- und Nachbereitungszeit, verlässliche Hard- und Software, Fortbildungsangebote, Stellen an den Standorten für Systemadministration, eine gute Bandbreite. Dinge, die zumindest lösbar und durch die mehrfach aufgestockten Mittel des Digitalpakts Schule auch unter Umständen finanzierbar sind. Eine Berufsvorbereitungsklasse oder regulärer eine Fachklasse zu unterrichten, die zum Teil vor Ort in einem Klassenraum sitzt und zum Teil aus verschiedenen Orten oder bei länderübergreifenden oder gar bundesweiten Fachklassen aus ganz Deutschland zugeschaltet sind, ist jedoch etwas ganz anderes. Aus Sicht der Kolleg*innen sollten solche hybriden Lehr- und Lernsituationen bestenfalls vermieden werden.
     
  3. Bildungsarbeit ist Beziehungsarbeit. Die Kolleg*innen in den berufsbildenden Schulen leisten einen unschätzbar wertvollen Beitrag für die soziale Begleitung und Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen. Digitale Lerneinheiten oder Settings, insbesondere digitale Selbstlernphasen, können die Präsenzarbeit dabei niemals ersetzen, sondern nur ergänzen. Es gilt, mit Ausgenmaß die konkreten Anteile digitaler Unterrichtsumsetzung zu gestalten.
     
  4. Die Qualitäts- und Schutzstandards der dualen Ausbildung und zunehmend auch der schulischen Ausbildung funktionieren nur im Zusammenspiel mit unterschiedlichen Lernorten und professionell handelnder pädagogischer, weiterer betrieblicher oder dienststellenzugehöriger Akteur*innen. Bei der Umgestaltung von Lehrplänen und Abläufen wie auch in der Kooperation mit den Betrieben und Praktikumstellen und ggf. vorhandenen Mitbestimmungsgremien, entsprechend Betriebsverfassungs- oder Personalvertretungsgesetz, ist eine umfassende Sensibilisierung und Informiertheit in Bezug auf die geänderten Regelungen im Ausbildungsverlauf zu gewährleisten. Dies gilt auch für die Hauptbetroffenen, die Schüler*innen. Es muss von Anfang an Transparenz für sie und ggf. ihre Sorgeberechtigten über den Ablauf ihrer Ausbildung bestehen.

Fazit: Alle hier benannten Punkte wurden von uns bereits gegenüber dem Ministerium angemerkt und wir werden das Modellvorhaben weiterhin als DGB-Gewerkschaften kritisch, aber konstruktiv begleiten. Für uns besteht allerdings die interne Herausforderung, Leitplanken und Standards zu entwickeln, die die Chancen der digitalen Unterrichtsgestaltung nutzen, dabei aber die Risiken nicht außer Acht lassen.