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Momentaufnahme eines kranken Systems
Wer sich mit Bildung in unserem Land beschäftigt, merkt schnell, dass wir über den Zustand des Systems so gut wie alles wissen. Es gibt unzählige Untersuchungen und Studien zu allen möglichen Facetten in der Bildungslandschaft.
Die allermeisten fördern seit Jahren erschreckende und zum Teil deprimierende Befunde zu Tage. Ein komplexer Blick, der eine Verknüpfung der Ergebnisse zum Beispiel der PISA-Studie mit den Verhältnissen, unter denen Lehrkräfte in Deutschland ihre Arbeit machen müssen, ins Auge fasst, kann nur die Bilanz ziehen: Mich wundert das nicht! Unverständlich ist und bleibt, dass all diese Untersuchungen und Studien nicht zu Veränderungen der Bildungspolitik führen; jedenfalls nicht zu solchen, die Verbesserungen erbringen. Im Gegenteil! Verfolgt man die Entwicklung über Jahre, muss man eine ständig fortschreitende Verschlechterung der Verhältnisse konstatieren, die Dr. Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung der Robert Bosch Stiftung, zu der Feststellung veranlasst: „Wir sehen in den Ergebnissen (des Schulbarometers 2024; Red. EuW) die Momentaufnahme eines kranken Systems.“ Dieses kranke System führt mittlerweile dazu, dass Berufsanfänger*innen den Schuldienst gar nicht erst antreten. Andere, die gerade erst begonnen haben, wollen so schnell als möglich wieder aus den Schulen raus.
Der Druck auf die Lehrkräfte ist vor allem wegen des inzwischen bundesweit gewaltigen Personalmangels groß. Viele Kolleg*innen halten dem oft nicht Stand und von den älteren gehen die meisten mit 63 Jahren in Rente, wenn sie es sich finanziell irgendwie leisten können. Zum Personalmangel als der absolut dringendsten Frage gesellen sich zunehmend Faktoren wie das Verhalten der Schüler*innen und eine immer größer werdende Heterogenität in den Klassen aller Schulformen. Diese Entwicklung führt immer öfter zu emotionaler Erschöpfung. Bei 32 Prozent der Lehrkräfte mindestens einmal pro Woche, bei 36 Prozent sogar mehrmals.
Und als ob das noch nicht genug negative Faktoren wären, stellt das Schulbarometer einen hohen Investitionsbedarf in marode Schulgebäude und in die technische und digitale Ausstattung fest. Da verwundert es nicht, dass jede vierte Lehrkraft den Schuldienst auf der Stelle verlassen würde, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte. Für nur 42 Prozent käme ein Berufswechsel unter keinen Umständen infrage. Wie arbeitet es sich, wenn meine Arbeit niemanden interessiert, wenn es kein Feedback gibt? Schulleitungen sind genauso mit Aufgaben überfrachtet wie ihre Lehrerinnen und Lehrer. Gegenseitige Hospitationen finden wegen ohnehin ständiger Überlastung nicht statt. Deutsche Pädagog*innen sind deshalb viel zu sehr auf sich selbst fokussiert. Dabei funktioniert dieser Beruf nicht ohne ständige Weiterentwicklung. Doch Fortbildungen und gegenseitiger Austausch brauchen Zeit, die kaum jemand noch hat. Ein verhängnisvoller Kreislauf, der endlich durchbrochen werden muss. Es liegt alles auf dem Tisch. Die Bildungspolitiker in Bund und Ländern müssen endlich ihre Hausaufgaben machen!
Das Deutsche Schulbarometer ist eine repräsentative längsschnittliche Panelstudie, die ein Schlaglicht auf die aktuelle Situation von Lehrkräften wirft. In der Befragung aus dem November 2023 berichtet fast jede zweite Lehrkraft von Problemen mit psychischer oder physischer Gewalt unter Schüler*innen an der eigenen Schule. Die Befragung zeigt auch, dass Gewalt an der eigenen Schule das Burnout- und Stressrisiko von Lehrkräften deutlich erhöht. Mehr als ein Drittel fühlt sich mehrmals pro Woche emotional erschöpft, vor allem jüngere und weibliche Lehrkräfte sowie Grundschullehrer*innen sind betroffen.