Erfordernis von starken Gewerkschaften
Prekäre Verhältnisse in Wissenschaft und Bildung
Historisch betrachtet haben sich die Gewerkschaften um die Mitte des 19. Jahrhunderts überall in Europa gebildet, als die Ausbeutung von Arbeiter*innen in Europa ein Niveau erreicht hatte, das dem von Sklaverei gleichkam, die etwa zur gleichen Zeit in den europäischen Kolonien abgeschafft wurde. Die Gewerkschaften sind aus den Arbeitervereinen etwa zeitgleich mit Arbeiterparteien und Genossenschaften als sozial-politische Interessenvertretungen und Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter*innen hervorgegangen und übernehmen bis heute eine vitale Rolle innerhalb der modernen Arbeiterbewegung.
Die Ausbeutung, die Arbeiter*innen und Angestellte heute durch die modernen Arbeitsverhältnisse erfahren, sind zwar andere als vor gut 150 Jahren, aber Ausbeutung in einem anderen Gewand ist immer noch Ausbeutung. Hier nehmen sich private Wirtschaft wie auch öffentlicher Dienst wenig. Hier wie dort herrschen schlechte Arbeitsbedingungen und schlechtes Betriebsklima, es kommt zu Arbeitsüberlastungen, Kettenbefristungen, Zwangsteilzeit, aber auch zu Diskriminierungen und Mobbing gegenüber Mitarbeiter*innen. Viele Berufe werden damals wie heute schlecht bezahlt und zuletzt haben sich viele Arbeitgeber verweigert, die durch die Inflation gestiegenen Lebenshaltungskosten zumindest in Teilen durch Lohnerhöhungen zu kompensieren. Vielmehr ist es durch die Homeoffice-Regelungen der vergangenen Jahre dazu gekommen, dass der Arbeitsbereich immer tiefer in den Privatbereich eingedrungen ist. Die Strom- und Heizkosten müssen dabei immer diejenigen im Homeoffice tragen und nur, wenn sie einen einigermaßen fairen Arbeitgeber haben, werden diese privaten Mehraufwendungen zumindest in Teilen erstattet.
Die Arbeitszeiterfassung wird entweder zur arbeitgeberseitigen Verhaltenskontrolle verwendet oder beliebig zu Gunsten einer Ausweitung der Arbeitszeiten ausgesetzt, wobei zugleich auch andere Arbeitsschutzregelungen unterwandert werden. Vieles von dem, was gerade in der Arbeitswelt passiert, erinnert an das Vorgehen der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, die aus „Gutherzigkeit und Wohlwollen“ gegenüber den Arbeiter*innen Arbeitersiedlungen in Fabriknähe bauten. Recht bald stellte sich aber heraus, dass diese Siedlungen allein der Kontrolle und Überwachung dienten, um die betroffenen Menschen noch effektiver ausbeuten zu können. Die Arbeiter*innen standen unter Kontrolle und Überwachung sowohl bei der Arbeit wie auch im Privaten, so wie es heute auch wieder droht.
In den vergangenen Jahren hat sich immer mehr gezeigt, wie stark die Erosion zahlreicher Arbeitnehmer*innenrechte eigentlich mittlerweile vorangeschritten ist. Sie hat schon lange weite Teile der Bildungslandschaft von der Kita bis zur Hochschule erreicht und zeigt sich an prekären Arbeitsverhältnissen und Dauerbefristungen. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind mittlerweile bei Sozialarbeiter*innen, Sozialassistent*innen und pädagogischen Mitarbeiter*innen wie auch wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen der Regelfall. Gesellschaftliche Dauer aufgaben in der Bildung werden dabei behandelt wie vorübergehende Ereignisse, die man mit Projekten abfedern kann. Weil die Projekte und damit verbunden die Vertragslaufzeiten aber schnell vorüber sind, kommt es immer wieder zu Unsicherheiten bei den entsprechenden Mitarbeiter*innen.
So hat die sachsen-anhaltische Landesregierung wiederholt bewiesen, dass sie wie ein Industrieller oder Gutsherr des 19. Jahrhunderts agiert. Dies zeigte sich besonders deutlich, als sie – mit Willkür und ohne vorherige Ankündigung – Anfang 2023 einseitig entschieden hat, den Lehrer*innen eine „Vorgriffstunde“ aufzuzwingen. Sie erlegt also zusätzliche Arbeitslast auf und das, obwohl viele Lehrerinnen und Lehrer aufgrund des Lehrkräftemangels bereits ohnehin schon am Limit fahren und immer wieder kurzfristig Unterrichtseinheiten von erkrankten Kolleg*innen übernehmen müssen. Auch mit dem halbherzigen Versuch, den Lehrer*innenmangel durch Seiteneinsteiger*innen abzufedern, unterwandert das Land nicht nur die Tarifautonomie – gleiches Entgelt für gleiche Arbeit ist nicht mehr gegeben – gleichzeitig läuft das Schulsystem auch Gefahr, durch unzureichend ausgebildete Lehrkräfte zu Gunsten von Quantität an Qualität einzubüßen.
Im Hochschulbereich steht eine neuerliche Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) an, ein Gesetz, das in den vergangenen gut 15 Jahren das wissenschaftliche Arbeiten unterhalb der Professur zunehmend prekär hat werden lassen und den Wissenschaftsbereich zunehmend destabilisiert. Wie schon lange im Bereich der Wissenschaft greift seit einigen Jahren die „Projekteritis“ auch im Sozialbereich immer mehr um sich und beginnt, auch hier ihre zerstörerische Wirkung zu zeigen. Die Prekarisierung des Bildungsbereichs schreitet weiter voran und das Arbeitsleben entfernt sich immer mehr von einem geordneten Arbeitsverhältnis, welches in der Regel die unbefristete Vollzeitbeschäftigung ist, die ohne durch den Arbeitgeber vorgeplante Überstunden auskommt.
Das Erfordernis von starken Gewerkschaften und somit auch einer starken GEW hat also nichts an Aktualität eingebüßt, und zwar für alle Beschäftigten.