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GEW-Mitglieder im Fokus

Rita Mittendorf: Reflexionen in „Wolkenkuckucksheim“

Rita Mittendorf war nach der Wende zwölf Jahre lang stellvertretende Landesvorsitzende der GEW Sachsen-Anhalt. Zu ihren Erfahrungen und Erlebnissen, auch jenen aus gut zwei Jahrzehnten als Mitglied und bildungspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, hat sie jetzt ein Buch vorgelegt.

Als wir unseren Gesprächstermin verabreden, findet Rita Mittendorf die zur Verfügung stehenden anderthalb Stunden „ganz schön wenig“. Ich stimme ihr zu – und auch wieder nicht: Denn natürlich können gut 90 Minuten Interview unmöglich 73 prallvolle Lebensjahre in Gänze abbilden. Und halte dagegen: 230 Buchseiten könnten das freilich auch bloß nicht. Das genau ist die Seitenzahl von Rita Mittendorfs nun in Buchform vorliegenden Lebenserinnerungen – ihrer mit Hilfe des Verlegers und Autors Reinhardt O. Hahn verfassten „Beichte in Wolkenkuckucksheim“.

Also unternehmen wir ruhig den Versuch, im nachfolgenden Text kaleidoskopartig insbesondere Rita Mittendorfs langjähriges Engagement für die GEW zu beleuchten – welches im Übrigen auch ihr „Hauptantrieb gewesen“ sei, in die Politik zu gehen:

Von 1994 bis 2016 wirkte die gebürtige Magdeburgerin parallel als Mitglied der SPD-Fraktion im sachsen-anhaltischen Landtag – und als deren bildungspolitische Sprecherin an besonders herausgehobener, einflussreicher Stelle. 1990 „aus dem Stand“ zur stellvertretenden GEW-Landesvorsitzenden gewählt, hatte sie mit ihren gewerkschaftlichen Mitstreitern „ja immer wieder vor dem Landtag demonstriert. Aber ich war nie bei denen dabei, die die Gesetze machten – das wollte ich ändern.“

Dass sie sich die SPD als Partei auserkor, folgte Mittendorfs konsequent analytischem Ansatz: „Kompromisse musst du überall eingehen – bei der SPD waren es aus meiner Sicht die wenigsten“, erzählt sie. Vom politischen Gegner CDU bekam sie alsbald die Etikettierung „rote Rita“ verpasst – „dabei bin ich im Grunde strukturkonservativ und plädiere dafür, das, was sich nachweislich bewährt hat, zu bewahren.“ Aber auch unter ihren eigenen Parteifreunden machte sich die streitbare GEW-Vizechefin unbeliebt – was Mittendorf zufolge ziemlich sicher ein Grund gewesen sei, dass ihr höhere Weihen als Staatssekretärin oder gar Ministerin stets verwehrt blieben. „Als die SPD unter Reinhard Höppner acht Jahre lang selbst am Regierungs-Ruder war, habe ich quasi gegen mich selbst gestreikt“, schildert Rita Mittendorf die Krux.

„Man liebt mich oder man hasst mich“, sagt die Frau, der immer schon ein aufmüpfiger und die Auseinandersetzung nicht scheuender Wesenszug eigen war. Das sei bereits, wie sie sagt, zu DDR-Zeiten so gewesen, als sie nach einem Lehrerstudium für Russisch und Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Magdeburg zur Methodik des Russischunterrichts lehrte – und sich dennoch von keiner sozialistischen Einheitspartei vereinnahmen ließ. Als sich nach der Wende bei der Gründung des GEW-Landesverbandes Sachsen-Anhalt die alten Funktionäre anschickten, auch die neuen werden zu wollen, grätschte Rita Mittendorf dazwischen, warf ihren Hut in den Ring – und erhielt, politisch unbelastet, das Vertrauen. „In den ersten GEW-Jahren hatten wir hauptsächlich mit so unschönen Themen wie Evaluierung und Abwicklung zu tun. Da war ich, auch was die verhinderte Gleichstellung, sprich abgelehnte Anerkennung der DDR-Pädagogik-Abschlüsse, anging, häufig völlig konträrer Ansicht – und habe mich, oft unter Schmerzen, doch dem demokratischen Prinzip, die Mehrheitsmeinung letztlich mitzutragen, gebeugt.“

Besonders schmerzlich seien für sie die Entwicklungen im Hochschulbereich in den 1990er Jahren gewesen. Die Abwicklungen ganzer Fachbereiche haben Lücken gerissen und führten letztendlich zum Elitenwechsel an den Universitäten und Hochschulen. „Aber so einfach wurden die Arbeitgeber die Leute nicht los! Dank unseres Einsatzes und erfolgreicher Musterprozesse erreichten wir immerhin eine vernünftige finanzielle Abfindung der Beschäftigten“, sagt Rita Mittendorf. Die Situation im Schulbereich hingegen sei damals ganz anders gewesen. Bis Mitte der 1990er Jahre waren genug Lehrkräfte und Schüler vorhanden. Die Geburtenrate ging rapide nach unten, nicht nur in Sachsen-Anhalt war ein heftiger „Geburtenknick“ zu spüren. Das führte zu einem Lehrerüberhang. Entlassungen im großen Stil seien aber nicht umsetzbar gewesen. Zur Sicherung der Lehrerarbeitsplätze konnte ein Tarifvertrag durchgesetzt werden, der für die Lehrer zu weniger Beschäftigung und weniger Geld führte, aber dafür Entlassungen ausschloss. „Heutzutage ist das schwer zu glauben, aber damals hatten wir einen so großen Lehrerüberhang, dass wir mit Blick auf die Sicherung der Zahlungsfähigkeit des Landes praktisch keine andere Wahl hatten.“ Vehement (wenn schlussendlich ohne wirklichen Erfolg) hatte sich Rita Mittendorf auch dafür eingesetzt, nicht das Schulsystem nach bundesdeutschen Vorgaben zu übernehmen, sondern die Institution der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule (POS) zu erhalten. „Guckt man allein auf Inhalte und zieht die zugegebenermaßen unselige ,rote Soße‘ aus DDR-Zeiten einmal ab, ist das nämlich ein fürwahr modernes Konzept – gewiss kein Zufall, dass sich gerade skandinavische Länder wie etwa Finnland, die uns bei den PISA-Tests regelmäßig die ,Rücklichter‘ zeigen, sehr stark daran orientieren.“

Im November 2018, Rita Mittendorf hatte sich nach ihrem Ausscheiden aus dem Landtag auf Basis ihrer unstillbaren Entdeckerfreude beruflich selbstständig gemacht und als Reiseleiterin Touren in ganz Europa sowie zweimal sogar in Südafrika betreut und geführt, erlitt die allein-lebende Mutter eines längst erwachsenen Sohnes im Wortsinn einen Schicksals-Schlag: Nach einem Schlaganfall war ihre komplette rechte Körperseite gelähmt und sie konnte nicht sprechen. Doch mit eisernem Willen kämpfte sie sich ins Leben zurück, konnte – entgegen aller Wahrscheinlichkeit – nach zwei Jahren zunächst das Pflegeheim, ein Jahr später sogar das sich daran anschließende Betreute Wohnen verlassen und steht heute – bei täglich zweimaliger Unterstützung durch einen Pflegedienst – wieder selbstbestimmt auf eigenen Füßen. Im Breiten Weg mitten in Magdeburgs Innenstadt hat sie sich ein hoch oben im 9. Stock gelegenes Apartment mit allerbester Aussicht auf den Dom gegönnt – ihr „Wolkenkuckucksheim“, wie sie selbst sagt. Auch erstaunlich digital – über Smartphone, WhatsApp und Facebook – mit der Welt und ihren Weggefährten verbunden, hat sie sich in diesem ihrem Alters-Domizil in den letzten anderthalb Jahren von ihrem Co-Autor Reinhardt O. Hahn gewissermaßen eine Lebens-„Beichte“ abnehmen lassen. „So sehr viele Leute auch schon vor meinem Schlaganfall auf mich eingeredet hatten, ich müsse unbedingt ein Buch über meine Erfahrungen und meine ,Reise‘ durch die Institutionen schreiben, so stark habe ich mich lange dagegen gewehrt. Doch jetzt, wo das Werk vorliegt und greifbar ist und von anderen gelesen werden kann, würde ich sogar selbst sagen: Das meinige ist in der Tat ein interessantes Leben – im Positiven wie im Negativen.“

Rita Mittendorf/Reinhardt o. Hahn; Beichte in Wolkenkuckucksheim; Projekte Verlag Hahn 2023; ISBN 978-3946169581; 230 Seiten, broschiert; 20,00 €
 

Die GEW verlost zwei Exemplare des Buches – wenn du interessiert bist, sende bis zum 31. August eine E-Mail mit dem Betreff „Beichte in Wolkenkuckucksheim“ sowie deinen Namen und deine Anschrift an: katja.kaemmerer(at)gew-lsa(dot)de

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