GEW-Mitglieder im Fokus
Timo Kirmse: Mutmacher mit langem Atem
Timo Kirmse sitzt als GEW-Mitglied für den DGB im Landesbehindertenbeirat und hat sich zudem an der MLU Halle-Wittenberg in ehrenamtlicher Funktion dem Thema Inklusion verschrieben. Bei seinem Beratungsangebot für Studierende mit Handicap greift er auch auf seine persönlichen Erfahrungen zurück.
Man kann es im Grunde nur dramatisch unterschätzen, über welch ausgeprägten „langen Atem“ Timo Kirmse tatsächlich verfügt. Und damit sind gar nicht Kirmses zwei, drei wöchentliche Laufeinheiten über vier bis fünf Kilometer im Oval des Stadions am Bildungszentrum in Halles Neustadt gemeint. Nein, vor allem der persönliche Werdegang sowie das unverdrossene Engagement des heute 48-Jährigen, nicht zuletzt für die GEW, legen diese Einschätzung nahe.
Rückblende: Bis zum vierten Schuljahr läuft das Leben für den gebürtigen Hallenser in ganz normalen Bahnen – bis er akut an Schwund des Sehnervs erkrankt und innerhalb von fünf, sechs Wochen 90 Prozent seiner Sehkraft verliert. Doch Timo Kirmse rappelt sich wieder auf, bietet dem dramatischen Schicksalsschlag die Stirn, legt an einer Sehschwachen-Spezialschule in Königs Wusterhausen das Abitur ab und nimmt 1995 trotz seines Handicaps ein Jura Studium an der MLU Halle-Wittenberg auf. „Meine Professoren haben mich nach Kräften unterstützt, mir ihre Folien zur Verfügung gestellt und mir bei Klausuren angesichts des für mich sehr viel mühsameren Lesens und Schreibens 50 Prozent mehr Zeit eingeräumt. 2002/03 hätte ich Examen machen können.“
Doch ausgerechnet für den knüppelharten Examensklausur-Marathon will das nun zuständige Landesjustizprüfungsamt diesen Nachteilsausgleich nicht gewähren, was Kirmse jedwede realistische Chance zum Bestehen der Prüfungen nimmt. Er bleibt im Uni-Betrieb, hält sich mit dem schmalen Verdienst als studentischer Mitarbeiter und seinem Blindengeld materiell gerade so über Wasser und bohrt mit einem bewundernswerten Stoizismus so lange das ganze dicke Behörden-Brett, dass er gut zehn Jahre (!) später doch noch Erfolg dergestalt hat, das Examenspensum auf zwei (Teil-)Durchgänge aufsplitten zu dürfen – und 2014 mit Bravour besteht. Zu erleben, was sich mit beharrlichem Kampf erreichen lässt, ist schlussendlich auch die „Geburtsstunde“ des – mittlerweile in mehreren Funktionen wirkenden – Ehrenamtlers Timo Kirmse: „Ich habe von zahllosen Menschen so viel Support und Zuspruch erfahren, da möchte ich etwas zurückgeben – gerade mit meinen Erfahrungen und aus meiner Perspektive als selbst von Behinderung Betroffener.“
An der Uni kommt er mit dem für den Hochschulbereich zuständigen Gewerkschaftssekretär Christian Müller in Kontakt, tritt – selbst Master- sowie Promotionsstudent und Co-Referent bei Lehrveranstaltungen – in die GEW ein, für die er seit Herbst 2022 als sachverständiges Mitglied im Landesbehindertenbeirat sitzt. An der Hochschule arbeitet Timo Kirmse, wiewohl er beruflich inzwischen als Jurist für Arbeits- und Sozialrecht im Landesverwaltungsamt tätig ist, bereits seit acht Jahren im Arbeitskreis Inklusion mit und bietet im Rahmen seiner zeitlichen Möglichkeiten über den Studierendenrat, als dessen Inklusionsbeauftragter er zudem fungiert, eine Beratung für Studierende mit Behinderung an. „Man muss sich das mal vergegenwärtigen: An der MLU gibt es uniseitig nicht einen einzigen Sehbehinderten gerechten Arbeitsplatz. Jeder Betroffene muss sich die erforderlichen technischen oder auch personellen Assistenzen individuell über Anträge bei sogenannten Eingliederungshilfeträgern ,heranorganisieren‘.
Mit meiner profunden Kenntnis der Materie und mit einem immer weiter wachsenden Netzwerk im Rücken kann ich durch Beratung und auch durch Begleitung zu Vor-Ort-Terminen dafür sorgen, dass kein Studierender mit Handicap in diesem ‚Zuständigkeits-Dschungel‘ verlorengeht oder gar verzagt“, beschreibt Timo Kirmse seine Tätigkeit, die dennoch nur dem berühmten Tropfen auf den heißen Stein gleichkommt. „Unter unseren insgesamt 20.000 Studierenden haben wir rund 2.300 mit gesundheitlichen Einschränkungen. Bei der Arbeitsagentur betreut jeder Bearbeiter etwa fünf- bis sechshundert Klienten. Heißt, dass wir für eine wirkungsvolle und effektive Würdigung der Belange der Studierenden mit Behinderung eigentlich vier Vollzeitbeschäftigte bräuchten. Tatsächlich hat sich die Uni gerade mal eine Dreiviertelstelle für einen Referenten für Inklusion abgerungen, den es zu allem Unglück auch noch bereits vor geraumer Zeit in den Krankenstand gezwungen hat“, legt der eine ruhige und besonnene Hartnäckigkeit ausstrahlende Mann den Finger in die Wunde. „Wenn die etwa 2.300 Studierenden mit besonderem Unterstützungsbedarf, das sind ja gut elf Prozent der gesamten Studentenschaft, mehr oder weniger alleingelassen werden, erreicht das doch eine Größenordnung, die wir uns in Zeiten des Fachkräftemangels zudem aus rein volkswirtschaftlicher Sicht überhaupt nicht leisten können.“
Und dann sei in seinem Beratungsangebot ja noch der wichtige Punkt Empathie: „Ich baue Brücken, erzähle zunächst ein bisschen von mir und davon, dass ich weiß, wie schwer bestimmte Dinge fallen. Zu sehen, ah, dem ging es ähnlich und er hat dennoch seinen Weg gemacht, kann ja durchaus eine Inspiration sein: Warum sollte man das nicht auch selbst schaffen können? Insofern bin ich vielleicht wirklich so etwas wie ein personifizierter Mutmacher“, sagt Timo Kirmse lachend. Auch wenn zu sagen sei, dass man in struktureller Hinsicht noch ein ganz, ganz dickes Brett zu bohren habe – das Inklusionsniveau an der MLU taxiert Kirmse auf „derzeit noch unter zehn Prozent“ –, vermag er sich gleichwohl darüber zu freuen, „wenn ich für die Einzelperson wirklich etwas erreichen kann.“ Das halte seine Motivation am Leben, sagt er. Und den langen Atem – ergänzen wir.