Zum Inhalt springen

Zwischen Mitgliederorganisation und gesellschaftlichem Schulterschluss

Welche Machtpotenziale haben Gewerkschaften?

Ende Oktober beginnt die Tarifrunde der Länder. Seit dem letzten Tarifabschluss mitten in der Hochphase der Pandemie im Jahr 2021 hat sich viel verändert. Das Virus gibt es zwar immer noch, aber von weniger Krise kann kaum die Rede sein. Ganz im Gegenteil: Die anhaltende Inflation betraf gerade in den letzten Jahren hauptsächlich die lohnabhängig Beschäftigten. In der anstehenden Tarifrunde gilt es seitens der Gewerkschaftenund der Länder-Beschäftigten, den dadurch entstandenen Reallohnverlust wieder einzuholen. Dass es hierbei keine Geschenke von der Arbeitgeberseite geben wird, davon ist auszugehen.

Die vorangegangenen Tarifverhandlungen in diesem Jahr lehren uns, wie die Arbeitgeberseite versucht, durch Einmalzahlungen und geringe Lohnprozente die Beschäftigten zu besänftigen. Und wir können uns auch jetzt bereits darauf einstellen, dass die altbekannten Totschlagargumente „Es ist kein Geld da.“ und „Wir müssen sparen.“ in Anschlag gebracht werden. Um dennoch möglichst nachhaltige Tarifabschlüsse im Hinblick auf Lohn und Arbeitsbedingungen durchsetzen zu können, brauchen die Gewerkschaften nicht nur gute Argumente, sondern auch Macht – das Lebenselixier der Gewerkschaften. Doch diese Macht ist keine gottgebene, keine himmlische. Sie ist fragil, prekär, permanent umkämpft und muss immer wieder aufs Neue hergestellt werden.

Gewerkschaften und Machtressourcen

Gewerkschaften sind Machtinstitutionen. Sie sind als kollektive Anstrengungen zu verstehen, die bestenfalls in der Lage sind, die Forderungen der Beschäftigten gemeinsam mit ihnen gegenüber den Arbeitgebern durchzusetzen. Macht könnte demnach in aller Kürze als betriebliche und gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit beschrieben werden.

Ein hilfreiches Instrument, um zu verstehen, wie die Gewerkschaften mächtig sein können, ist der sogenannte Machtressourcenansatz. Im Rahmen dieser theoretischen Heuristik werden vier verschiedene Machtquellen der Gewerkschaften betrachtet, die sich je nach Branche und Betrieb verschieden gestalten können: Gewerkschaften besitzen erstens Organisationsmacht. Diese Quelle der Durchsetzungsfähigkeit resultiert aus dem kollektiven Zusammenschluss von Beschäftigten. Je mehr Arbeitnehmende in einer Tarifgemeinschaft gewerkschaftlich organisiert sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Forderungen durchsetzen können.

Diese Machtressource ist zweitens eng verbunden mit der strukturellen Macht der Beschäftigten. Denn sie sind durch beispielsweise Streiks in der Lage, den Arbeitsprozess zu stören. Darüber hinaus entsteht Durchsetzungsfähigkeit drittens aus der institutionellen Macht. Darunter werden verbriefte Rechtsansprüche gefasst.

Die vierte und letzte Machtquelle ist die sogenannte gesellschaftliche Macht. Sie kommt dann zustande, wenn die gewerkschaftlichen Forderungen einen breiten Rückhalt aus der Bevölkerung erhalten und es beispielsweise zu Bündnissen zwischen den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Akteur*innen kommt.

Diese vier verschiedenen Machtressourcen ergeben in ihrem Zusammenspiel, ihrer gegenseitigen Verstärkung, Ergänzung und Erweiterung die Durchsetzungsfähigkeit der Beschäftigten auch für ihre Tarifforderungen. Der Ansatz ist dabei nicht nur ein Instrument zur wissenschaftlichen Analyse, sondern auch ein Werkzeug für die gewerkschaftliche Praxis. So kann damit bewertet werden, über welche Machtkapazitäten man in den jeweiligen Tarifauseinandersetzungen verfügt, welche Machtdefizite vorhanden sind und wie man gegebenenfalls auch kurzfristig mehr Durchsetzungsfähigkeiten entwickeln kann.

Implikationen für die aktuelle Tarifrunde der Länder

Der Machtressourcenansatz kann uns auch in der kommenden Auseinandersetzung der Tarifrunde der Länder dabei helfen, zu eruieren, welche Machtpotenziale und -defizite bei den Beschäftigten bestehen und wie weitere Machtressourcen aufgebaut werden können.

Es gilt, die Mitgliederbasis während der aktuellen Tarifrunde auszubauen, um weitreichende Forderungen im anstehenden Tarifstreit durchsetzen zu können. Die Beschäftigtenbasis ist grundsätzlich vorhanden. Dennoch sollte sich auf dem bisherigen Zuwachs nicht ausgeruht werden. Mitgliedergewinnung durch Organizing, nicht nur von den hauptberuflichen Gewerkschafter*innen, sondern auch von den aktiven Gewerkschaftsmitgliedern, kann hierfür eine mitgliederaufbauende Strategie darstellen, um die Organisationsmacht in der anstehenden Länder-Tarifrunde weiter zu stärken. Wie es um die institutionelle Macht der Gewerkschaften steht, wird nicht letztlich von der Organisationsmacht abhängen. Denn inwiefern es gelingt, möglichst viele Prozente beim Lohn durchzusetzen und sich nicht mit Einmalzahlungen abspeisen zu lassen, wird unter anderem davon abhängen, wie stark der Organisationsgrad der Beschäftigten ist.

Eine weitere grundsätzliche Herausforderung besteht im Hinblick auf die strukturelle Macht der Gewerkschaften in dieser Tarifrunde, und zwar aufgrund der Tätigkeitsstruktur im öffentlichen Dienst. Während Streiks im Gewerbe vor allem primär das Unternehmen stören, betreffen Streiks im öffentlichen Dienst darüber hinaus noch die Adressat*innen. Wenn beispielsweise Lehrer*innen in den Arbeitskampf treten, betrifft das nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Schüler*innen und die Eltern. Hinzu kommt nicht selten ein professionelles Selbstverständnis, dass es den Lehrkräften untersagt, die Adressat*innen aufgrund der Maßnahmen des Arbeitskampfes zu vernachlässigen. Streiks können sich so wiederum auf die gesellschaftliche Macht negativ auswirken, wenn die Bevölkerung die Forderungen und die Arbeitskampfmaßnahmen nicht unterstützt, sondern sie (wie die Arbeitgeber) ablehnt, weil sie in ihrem Alltag von den Folgen negativ betroffen sind. Der gesellschaftlichen Macht kann deshalb eine Schüsselrolle in der laufenden Tarifauseinandersetzung der Länder zukommen. Je mehr es den Gewerkschaften gelingt, die Zivilgesellschaft hinter den Tarifforderungen zu versammeln, umso größer ist auch ihre Durchsetzungsfähigkeit. Wie das gelingen kann, zeigen aktuell Fridays for Future und ver.di bei der Tarifverhandlung Nahverkehr (TVN). Bereits seit 2020 kooperieren die Gewerkschaften und die Klimabewegung und bringen ökologische und soziale Forderungen solidarisch zusammen. Darüber hinaus wird an ihrem Beispiel deutlich, wie sich Mehrheiten für gesellschaftliche Veränderungen gewinnen lassen. Hier kann zwar eingewandt werden, dass eine solche Kooperation zwar beim Nahverkehr und der Klimabewegung funktioniere, aber nicht in anderen Branchen wie zum Beispiel dem öffentlichen Dienst der Länder. Jedoch zeigten auch andere Beispiele wie der Chicagoer Lehrer*innenstreik im Jahr 2019, wie Zivilgesellschaft die streikenden Lehrkräfte in ihren Forderungen unterstützte und mit der Rückendeckung aus der Bevölkerung weitreichende Gewerkschaftliche Forderungen durchsetzen konnte. So organisierte zum Beispiel ein Solidaritätsprojekt Mahlzeiten für die Schüler*innen, während die Lehrkräfte streikten, und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen leisteten Aufklärungsarbeit, um eine breite Masse hinter den Forderungen der Lehrkräfte zu versammeln.

Ausblick: Auf dem Weg

Für den aktuellen Tarifstreit im Herbst lässt sich daraus Folgendes ableiten: Erstens gilt es, die Beschäftigten zu aktivieren und verantwortungsvoll mit in die Tarifrunde einzubinden. Das bedeutet nicht, dass die Gewerkschaften ihre Verantwortung abgeben sollen. Ganz im Gegenteil: Sie sollen diese mit den Beschäftigten teilen. Eine hohe Organisationsmacht kann nur gemeinsam von gewerkschaftlich aktiven Beschäftigten und den hauptamtlichen Gewerkschaftern aufgebaut werden. Gleichzeitig gilt es zweitens, die strukturelle Macht mithilfe der gesellschaftlichen zu stärken. Das Zugehen von ver.di auf Fridays for Future kann hierfür als Musterbeispiel gelten und muss als Teil einer gewerkschaftlichen Erneuerung verstanden werden. Bei zweiterem liegt die Verantwortung bei den Gewerkschaften, weitere solche Bündnisse zu ermöglichen. Erst dieses Jahr hatte sich beispielsweise die GEW Sachsen-Anhalt am feministischen Kampftag beteiligt. Vielleicht ließ sich an solchen ersten Schritten fruchtbar anknüpfen, um diese auszubauen.